Der nebenstehende Aufsatz ist gedacht als Einführung zu einem Simpsons-Seminar, das vermutlich niemals stattfinden wird.

Die Simpsons: Postmoderne Aufklärung

Von der Aufklärung zur Postmoderne

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ . Immanuel Kant, der diese Zeilen in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ schrieb, wusste auch, was gegen diese von ihm diagnostizierte Form der Unmündigkeit zu unternehmen sei: Die Erziehung der Menschen zum Zusammenleben im Reich der Zwecke, wo jeder Mensch reiner Zweck und nicht mehr bloß Mittel ist. Eben diese Bewegung charakterisiert die Aufklärung der Moderne: Nicht nur wird der Mangel an Eigenständigkeit bedauernd festgestellt, auch das Ziel und der Weg zur einem besseren Leben ist den Autoren bekannt. Kants Schüler Friedrich Schiller veröffentlichte den Traktat über „die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ und stellte sich damit in die Reihe so illustrer Autoren wie Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Locke oder Hume. Die Aufklärer wussten, was zu tun ist, das leuchtende Ideal der Vernunft beschien ihren Weg.

Dieser Impetus setzte sich im 19. Jahrhundert unvermindert fort und noch Hegel konnte das Haus der abendländischen Philosophie abschließen und als den zu sich kommenden Weltgeist schreiben. Dabei vergaß er freilich nicht, sich selber als Manifestation dieses Weltgeists, als fleischgewordene Vernunft, als Schlüsselstein in dieses Haus einzufügen. Hier folgte er einer langen Tradition in der Philosophiegeschichte. Kein Autor ließ die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, sich selber – und ihre eigene Schule – als Gipfel und Vollendung einer langen Entwicklung des Menschengeschlechts hin zur Vernunft zu erklären. Hegel war der letzte, dem dies unbeschadet gelang, denn dieses Muster blieb im Folgenden nicht länger unerkannt. Die Eitelkeit der Philosophen, Feingeister und Intellektuellen, vornehmlich die der anderen, geriet in den Mittelpunkt der Betrachtung von Autoren wie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Die Sensibilität für den Narzissmus und die moralischen Falschheiten ihrer Umwelt übertrafen sie nur durch die Blindheit sich selber gegenüber und sie wurden dabei nicht müde, der Welt ihren Genius vorzurechnen. Dennoch waren sie die ersten, die das Projekt der Moderne und damit das der Aufklärung ad absurdum führten, indem sie die dahinter liegenden Eigeninteressen der Erzieher aufdeckten und in Frage stellten.

Philosophie ist laut Emmanuel Levinas das Offenhalten von Fragen und die Zeit nach der Aufklärung öffnete wieder solche Fragen, die diese bereits als beantwortet ad acta legen wollte: Was der Mensch sei, was das Gute sei und wie es von eben diesem Menschen zu erreichen ist. Erst indem diese Fragen wieder fragwürdig wurden, konnten Disziplinen wie die Sozial- und Kulturanthropologie entstehen, in denen der Mensch nicht nur als reines Geisteswesen, sondern als von gesellschaftlicher und kultureller Umwelt geprägt gesehen wurde. Damit stand seit langem Mal auch die Entwicklung der Menschheit zum dauerhaft Guten wieder in Frage.

Zwar hielt sich der ungebrochene Fortschrittsglaube in der Gesellschaft noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, doch wie so oft war die Philosophie ihrer Zeit um einige Jahrzehnte voraus. Zwei Weltkriege von bis dahin unvorstellbarer Grausamkeit stellten den Glauben an eine stetige Weiterentwicklung der Menschen nicht nur in Frage, sondern zwangen gerade, diese inzwischen absurd klingende Behauptung aufzugeben. Man kann sagen, dass ab 1945 der Erklärungsgehalt der Moderne am Ende war. Zwar gibt es noch starke, aus der aufklärerischen Tradition gespeiste Quellen, die für sich eben die Vollendung des Projektes der Moderne in Anspruch nehmen, doch wird am Verhalten ihrer Autoren immer klarer, dass diese Strömungen ähnliche Interssen vertreten wie die aufklärerischen Pädagogen des 18. Jahrhunderts: Schulen zu gründen, die über Macht und Einfluss ihre Doktrinen zu verbreiten versuchen, ohne sich mit ihren Kritikern substanziell auseinandersetzen zu müssen. Und substanziell heißt, die eigenen Grundlagen ernsthaft in Frage stellen zu lassen.

Denn wenngleich jede philosophische Schule für sich sehr überzeugend klingen mag, so ist es erst ihre Vielzahl, welche die Hoffnung auf ein gemeinsames leuchtendes Zentrum zunichte machen muss. Will man nicht davon ausgehen, dass der Grossteil der Welt aus dummen, uneinsichtigen oder bösartigen Mensch besteht, die „die Wahrheit“ einfach nicht einsehen wollen, so bleibt, will man Dogmatismus vermeiden, nur noch der Weg in einen Pluralismus von Weltanschauungen, eben jenen Perspektivismus, den Nietzsche bereits am Höhepunkt des Fortschrittglaubens des 19. Jahrhunderts formuliert hatte. Die Welt hat damit ihre Zentren verloren und dabei feststellen müssen, dass diese Zentren immer nur rhetorischer und semantischer Schein waren, ideologisches Blendwerk, um dort künstliche Einheit zu schaffen, wo Vielheit herrschte. Nietzsches Satz „Gott ist tot. Und wir haben ihn getötet“ fasst diese Erkenntnis des Endes der Metaphysik zusammen. Doch Gott war nicht das einzige geistesgeschichtliche Zentrum: Ob Natur, der Mensch, Vernunft, Freiheit, das moralische Gesetz, der Weltgeist oder das Sein, an transzendentalen, den Menschen übersteigende aber alles bestimmende Zentren war in der Philosophie der Moderne kein Mangel.

„Das Zentrum erhält nacheinander und in geregelter Abfolge verschiedene Formen oder Namen. Die Geschichte der Metaphysik des Abendlandes wäre die Geschichte dieser Metaphern und dieser Metonymien. Ihre Matrix wäre [...] die Bestimmung des Seins als Präsenz in allen Bedeutungen dieses Wortes. Man könnte zeigen, daß alle Namen für Begründungen, Prinzip oder Zentrum immer nur Invarianten einer Präsenz (eidos, arche, telos, energia, ousia [Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt], aletheia, Transzendentalität Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.“ Die Präsenz gegen die Derrida sich im Anschluss an dieses Zitat ausführlich zur Wehr setzen wird, ist gerade die Vorstellung, zum Wesen, zum Zentrum der Dinge vorzustoßen, die Vorstellung, dass sie unverhüllt der Erkenntnis zugänglich sind.

Das Ende der Moderne, der Verlust des sicheren, objektiv-verbindlichen Zentrums und letztendlich die Unbegründbarkeit aller Werte mag für den Einen als erschütternde Grenzerfahrung erscheinen, die es durch Schulen- und Gemeindenbildung zu verdrängen gilt, für die meisten Autoren der Postmoderne aber war es eine Befreiung von den sowieso als falsch und unstabil erlebten Fesseln eines Erklärungszusammenhangs der nur unter Ausblendung der reichhaltigen, vielschichtigen und häufig auch widersprüchlichen Erfahrungen aufrecht gehalten werden konnte.

Doch mit dem Ende der Moderne schien auch das Ende der Aufklärung gekommen. Denn niemand konnte mehr den Anspruch erheben, Erziehung diene einem höheren Ideal und die so Erzogenen werden zu einem späteren Zeitpunkt den Sinn und Zweck ihrer Erziehung nicht nur einsehen sondern auch mit Freuden weiter verbreiten. Vielmehr haben Diskursanalytiker wie Michel Foucault die inhärenten Machtstrukturen solcher Ansprüche frei gelegt und gezeigt, dass Schulen und Erziehungsanstalten, ähnlich wie Fabriken, Gefängnisse und Irrenhäuser hauptsächlich den Zweck erfüllen, Normalität zu definieren und das Anormale als krank oder moralisch verwerflich auszuschließen. Zwar beschrieb Foucault die französische Nachkriegsgesellschaft, die von Sach- und Standeszwängen sicherlich noch deutlich stärker geprägt war als heute, dennoch bleibt angesichts der Bildungsdebatten um einen Unterrichtskanon oder der wichtigen und damit als zu lehrenden Fächer die Frage offen, wie die Entscheidungen sich eigentlich begründen lassen, welche Anteil noch die alten Leitbilder der Aufklärung und welchen die simple Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen spielen. Im zweiten Fall handelt es bei Schulen nämlich vor allem um Sozialisationshorte, in denen eine Gesellschaft versucht, ihre künstliche Identität nach Außen hin abzusichern und fremde Einflüsse von vornherein den Zutritt zu erschweren. Religionsunterricht mag dabei ebenso als Beispiel dienen wie das Primat der mathematisch-technischen Vernunft vor anderen Formen wie sozialer, kreativer oder praktischer Intelligenz.

Was aber, wenn das Kantsche Diktum über Aufklärung nicht als veraltet abgelehnt wird, wenn es immer noch als Ziel gilt, den Menschen bei seinem Weg aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu helfen? Wenn zwar kein gemeinsames Ziel mehr vorgegeben werden kann, weil es auf dem Weg abhanden gekommen ist, wenn aber der Weg selber nicht in Zweifel steht? Mit anderen Worten: Wie könnte Aufklärung unter den Bedingungen der Postmoderne aussehen?

Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen.

„Sie unterscheidet sich von anderer Aufklärung dadurch, dass sie endlos ist. Sie führt auf kein Ziel, kein Original, keinen Grundtatbestand, keine Basis und keine letzte Instanz.“ Die Vorgehensweise einer solchen endlosen Aufklärung liegt in der Verdeutlichung von Strukturen, von Prozessen und von den ihnen zugrunde liegenden Mechanismen. Aber auch von Mechanismen, die diesen Verdeutlichungsprozessen zu Grunde liegen usw. Sie liegt in der Beobachtung der Beobachter. Was der Einzelne mit dem Wissen über diese Zusammenhänge anstellt, das sei ihm selber überlassen, zunächst gilt es, ihn darüber aufzuklären. Dieses „das sei ihm selbst überlassen“ ist dabei durchaus ernst zu nehmen, jeder moralische Zeigefinger ist zu vermeiden, weil der eben immer von einer allgemein gültigen Moral ausgeht und damit das verlorene transzendentale Zentrum wieder durch die Hintertür einholt. Das Offenlegen von soziokulturellen Strukturen muss frei von ideologischen Altlasten erfolgen, will es sich wirklich um den Ausgang „des Menschen“ als Kollektivsingulars bemühen und nicht nur um den Ausgang der Menschen-die-die-folgende-Weltanschauung-teilen. Abgrenzungen der Zielgruppe erfolgen durch die Auswahl der analysierten Strukturen, wodurch vor allem die Menschen angesprochen werden, die diese Strukturen tatsächlich leben und erleben. Dieses sind im Groben die Forderungen einer Aufklärung, wie sie von postmodernen Autoren, vor allem französischer Provenienz gestellt werden, freilich ohne das allzu altbackene Wort „Aufklärung“ zu verwenden. Doch der Poststrukturalismus, der Strukturen ohne Zentrum untersucht, krankt in pädagogischer Hinsicht an einigen ganz wichtigen Punkten: Er ist intellektuell, elitär und weltfremd. Hätten seine Autoren wirklich den Ehrgeiz, ihre Analysen einem größeren Publikum zu präsentieren, so müssten sie nicht nur ihren Stil ändern sondern auch ihre Themenwahl. Doch ist fraglich, ob sie dann noch innerhalb ihrer peer-group als ernstzunehmende Philosophen wahrgenommen würden. Also stabilisieren sie einen elitären Sonderdiskurs und wenigstens darin folgen sie der alten Tradition der akademischen Philosophie, sich selber an den Gipfel der Erkenntnis und an die Spitze der abendländischen Geistesgeschichte zu stellen. Obwohl mit einer derartig hierarchischen Abschottung nach Außen der ganze Impetus der Postmoderne in Frage steht, wirklich ohne Zentrum auszukommen und die „großen Erzählungen“, die sich um sie rankten, beendet zu haben. Denn immerhin wird von der Philosophie die Erzählung des „Philosophenkönigs“ unvermindert weiter erzählt.

Von der ganzen Philosophie? Nein, ein kleines Dorf leistet erbitterten Widerstand gegen das Selbstverständnis der Akademie, Erkenntnis müsse elitär und mühsam sein. Zunutze machen sich die Bewohner dieses Dorfes ein Merkmal der Postmoderne, das eng mit der Zentrumslosigkeit zusammenhängt: Sie schöpfen aus einem schier unerschöpflichen Vorrat an Zitier- und Verweisungskontexten. Umberto Eco fasst die zugrunde liegende Haltung als „verlorene Unschuld“ zusammen, als Wissen darum, zwar nicht mehr originell, aber gerade deshalb kreativ sein zu können:

Diedrich Diederichsen: Die Simpsons der Gesellschaft

„Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht, dass die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, auf neue Weise ins Auge gefasst werden muss: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir von Liala geschrieben worden sind. Es gibt dennoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe Dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß in einer Zeit der verlorenen Unschuld.“

Alles, was gesagt werden kann, ist bereits gesagt worden und eigentlich ist auch nichts mehr hinzuzufügen, weil ein tiefer liegender Sinn nicht enthüllt werden kann. Und wenn es keinen Sinn gibt, so müssen wir auch keinen suchen. Zeichen verweisen eben gerade nicht auf eine ihnen vorgelagerte Welt sondern immer nur wieder auf andere Zeichen. Die Welt wird zu einem einzigen Verweiszusammenhang von Zeichen, Metaphern, Chiffren und Symbolen. Dieser Struktur kann nicht in die Position eines externen Beobachters entflohen werden, man kann sich niemals außerhalb dieses Gewebes positionieren, nur darin. Hier gilt es nun, durch geeignete Selektion Inseln der Kohärenz zu schaffen, Bedeutungszusammenhänge, die sinnvoll erscheinen, wenigstens für einige Zeit. Werte, Regeln, Normen, Rollenmodelle und persönliche Identitäten können nur durch künstliche Stabilisation aufrecht erhalten werden. Jede dieser Inseln kann in Austausch mit einer anderen gestellt werden woraufhin es zu heftigen Aushandlungen der in Frage stehenden Positionen kommen könnte. Doch da die Suche nach einem gemeinsamen Sinn längst keine Rolle mehr spielt, können sich die einzelnen Positionen getrost ignorieren, solange keine Abhängigkeiten entstehen.

Damit haben wir die beiden wichtigen Randbedingungen beisammen, die eine Aufklärung in Zeiten der Postmoderne erfüllen muss: 1. Sie muss ohne ideologisches Zentrum auskommen und sich auf das Offenlegen von Strukturen beschränken, dabei das eigene Vorgehen aber niemals aus dem Blick verlieren und 2. Die Strukturen um die es geht, sind künstlich geschaffene Sinnzusammenhänge, die in mannigfaltigen Aushandlungsprozessen gegeneinander in Anschlag gebracht werden. „Aushandlung“ meint hierbei keineswegs das friedliche Debatieren am grünen Tisch, wie es sich noch der Diskursethik der Neuen Frankfurter Schule, den selbst ernannten Vollendern der Moderne, als Ideal vorschwebt. Die Regeln der Aushandlungsprozesse werden mit diesen Prozessen zusammen immer wieder aufs Neue bestimmt, eine unabhängige Instanz gibt es nicht.

Die Simpsons

Umberto Eco, Nachschrift zum Namen der Rose


An dieser Stell müsste ein historischer und ein systematischer Überblick über die Serie erfolgen, den ich mir aber ersparen möchte, nicht zuletzt weil er in zahlreichen Quellen zur Genüge nachgelesen werden kann.

Ich möchte direkt auf die Frage eingehen, mit welchen Methoden es den Machern der Simpsons gelingt, die oben charakterisierten Strukturen aufzudecken und glaubhaft transparent zu machen, ohne auf ein transzendentes Zentrum – und sei es das der Struktur selber – zurückgreifen zu müssen. Dabei trenne ich zwei Methoden: zum einen die Konstruktion einer komplexen aber immer modellhaften Welt und zum anderen die Dekonstruktion der Lebenswelt ihrer Zuschauer mit Hilfe dieser Kunstwelt.

Konstruktion

Die Serie, die mittlerweile in die 14. Staffel à ca. 23 Episoden à ca. 22 Minuten geht, hat in über 100 Stunden um die Stadt Springfield herum eine künstliche Welt geschaffen, die hinreichend komplex ist, um alle nur denkbaren Situationen des nordamerikanischen Stadtmenschen abbilden zu können. Die Handlungsorte erstrecken sich über alle Etappen eines Grosstadtlebens: vom Krankenhaus bis zum Friedhof über Schule, Arbeitsstätte, Freizeiteinrichtungen etc. Und nicht zuletzt über die des Familienhauses. Gefüllt werden die Orte mit über 30 voll entwickelten Charakteren und einer Vielzahl von Nebenfiguren.

Dennoch, um mit dieser endlichen Zahl eine um vieles komplexere Welt zu modellieren, greifen die Autoren auf den Mechanismus der Verdichtung zurück, den Sigmund Freud in seinen Traumdeutung untersucht hat.


Ich verweise hier nur auf das Simpsons-Archiv
mit Veröffentlichungen, Links, FAQ und den Episode-Capsules.

Verdichtung ist „Eine der wesentlichen Mechanismen, nach dem unbewusste Vorgänge funktionieren: Eine einzige Vorstellung vertritt für sich allein mehrere Assoziationsketten, an deren Kreuzungspunkten sie sich befindet. Ökonomisch gesehen ist sie also mit Energien besetzt, die, an diese verschiedene Ketten gebunden, sich in ihr anhäufen. Die Verdichtung ist im Symptom und allgemein in den verschiedenen Bildungen des Unbewussten am Werk. Im Traum wurde sie am deutlichsten herausgestellt. Sie äußert sich dort durch die Tatsache, dass die manifeste Erzählung im Vergleich mit dem latenten Inhalt lakonisch ist: sie stellt eine abgekürzte Übersetzung von ihm dar. Die Verdichtung darf jedoch nicht mit einer Zusammenfassung gleichgestellt werden: Wenn jedes manifeste Element durch mehrere latente Bedeutungen determiniert ist, so kann umgekehrt jede dieser Bedeutungen sich in mehreren Elementen wiederfinden; andererseits gibt es keinen gemeinsamen Bezugspunkt für das manifeste Element und jede seiner Bedeutungen, die es repräsentieren: es faßt sie folglich nicht zusammen, wie das ein Begriff machen würde“

So verdichtet Krusty der Clown bspw. die kommerzielle Medienindustrie wie Walt Disney und gleichzeitig Disneys langjährigen Produktmerchandising-Partner, die Fast-Food-Kette McDonalds. Darüber hinaus repräsentiert Krusty noch die jüdischen Kulturschaffenden oder den veralteten Alleinunterhalter. Jeder Charakter der Simpsons verdichtet somit eine Vielzahl realer Rollen und kann daher wie ein Baustein als Stellvertreter bei der Konstruktion einer Situation eingesetzt werden. Deutlich wird dies u. a. bei den zahlreichen Schulungsszenen, sei es zum Thema „Verkehrssicherheit“, sei es zur Behandlung sexueller Belästiger. Der Seminarraum ist voller Bekannter Gesichter, die aber nicht in ihrer üblichen Rolle sondern eben in ihrer Eigenschaft als Repräsentant einer bestimmten sozialen Gruppe auftreten.

Verdichten lassen sich auch Orte: Der Handlungsraum der Springfield Elementary School steht für jede amerikanische Schule, die Church of Springfield für die ganze Institution 'Kirche'. Das Geheimnis um den tatsächlichen geographischen Ort der Stadt Springfield auf der Landkarte Amerikas begründet sich daraus, dass der Vater der Simpsons, Matt Groening, Springfield einfach als „anytown“ sehen möchte.

Eine weitere Methode, die Modellsituationen mit den realen Vorbildern zu verknüpfen ist die komplexe Verwendung von Zitaten.

Laplanche: Das Vokabular der Psychoanalyse

Legendär sind inzwischen die Auftritte echter Künstler in den Episoden, aber auch die Verweise auf Kinofilme, Bücher, Musicals, Gemälde etc. sind hinlänglich untersucht.

Jeder beliebige Ort mit jeder Kombination von Charakteren und Handlungen, d. h. jede beliebige Situation kann mit diesen Methoden konstruiert und modelliert werden.

Dekonstruktion

Dekonstruktion ist eine, wenn nicht gar die poststrukturalistische literaturwissenschaftliche Methode, ihr Urheber Jacques Derrida verwendet sie für alle Zeichengewebe. Und da in der Postmoderne alles Zeichen ist, lässt sich auch alles dekonstruieren. Die Dekonstruktion macht sich den Umstand zu nutze, dass kein Zeichen für sich alleine stehen kann. Im Verweisungszusammenhang stehend wird es von den umstehenden Zeichen mitgeprägt und damit von seinem Kontext semantisch überformt. Die Annahme einer einheitlichen und überzeitlich präsenten Bedeutung (s.o.) wird als Phantasma der Moderne, als ein weiteres transzendentales Zentrum entlarvt. Indem die Dekonstruktivisten Texte gegen ihre intendierte Bedeutung lesen, machen sie sich ihren denotativen und konnotativen Bedeutungsüberschuss zu nutze. Der denotative Überschuss besteht darin, dass ein Zeichen sich immer auf mehr bezieht, als sein Verwender beabsichtigt. Der konnotative Überschuss bezieht sich auf die Assoziationen, die ein Zeichen im Verlauf seiner mannigfachen Kontexte auf sich lädt. Jede Bedeutung, die eines Zeichens ebenso wie die eines Textes, fließt und ist einmalig, denn mit jeder Verwendung ändern sich der Denotations- und der Konnotationshof. Im Grunde, und deswegen wird die Dekonstruktion auch als poststrukturalistische Methode gesehen, geht es darum, die Einmaligkeit jedes Ereignisses, zu betonen, insbesondere das des Zeichengebrauchs. Denn mag die Differenz auch klein sein, sie ist zum einen nicht zu vermeiden und kann zum anderen bei der versuchten Wiederholung zu gänzlich anderen Resultaten im Verstehensprozess führen. Wenn die Einheit der Bedeutung als überzeitliches Sinn stiftendes Moment aufgegeben wird, bleibt nur die Unwiederholbarkeit. Dekonstruktion zeigt gerade am Versuch der Wiederholung die Mechanismen künstlicher Sinnstiftungen und die damit einhergehenden notwenigen Lücken und Entgleisungen jedes Textes.

Das mag jetzt trocken und blutleer klingen und die theoretischen Dekonstruktivisten geben sich aus oben genannten Gründen auch alle Mühe, ihren Ansatz noch viel komplexer klingen zu lassen, doch möchte ich in diesem Essay solcherlei Spezialdiskursen aus dem Weg gehen. Beispiele für gelebte Dekonstruktion finden sich in nahezu jeder Episode der Simpsons. Denn die konstruierten Situationen mögen auf den ersten Blick an reale erinnern, aber kleine Unterschiede im Modellierungsprozess werden konsequent herausgearbeitet und zu überraschenden Wendungen geführt. Lücken in Rollenmodellen können dabei ebenso aufgezeigt werden, wie bei moralischen Prinzipien oder kulturelle Normen.

Z.B. in Gruteser/Klein/Rauscher (Hg.) Die Simpsons. Auch die Episonen-Capsules im Simpsons-Archiv listen jedes identifizierte Zitat jeder Episode akribisch auf.

„Die Tatsache, daß jeder medientheoretische und kulturpolitische Einwand, der zu irgendeinem gegebenen Thema denkbar ist, auch mit Sicherheit vorkommt [...] und zwar noch auf eine besondere Weise dadurch subtil akzentuiert, dass er aus einem bestimmten Mund kommt“ , bedarf nicht nur einer Menge Personal, sondern macht auch deutlich, dass jedes Thema auch in einer anderen Couleur behandelt werden könnte, ja dass mit einer beliebig kleinen Differenz in der Ausgangslage die Situation sich gänzlich anders darstellen würde. Die Versuche, diesem fließenden Bedeutungs- und Sinngewebe durch Vorschriften, Regeln oder Normierungen zu begegnen werden als transparente Bemühungen des Machterhalts einzelner, häufig in einem Charakter verdichteter Interessengruppen entlarvt.

Was auf den ersten Blick lediglich wie das gezielte durchbrechen von Klischees aussieht – ein Aspekt, der sicherlich auch eine Rolle spielt –, entpuppt sich damit als subversive Strategie der Entmachtung des Sinns und der Normalität. „Normalität“ ist laut Groening nichts anderes als der Versuch, normal zu sein. Jeder Mensch ist einzigartig und auf seine Weise anormal.

Doch auch die erzwungene Originalität bei der Verneinung jeder formelhaften Wendung würde als Nonkonformismus selber zum Klischee erstarren, so dass die Autoren regelmäßig auch diesen Mechanismus enttarnen. Diese Selbstreflexivität, das Beobachten der eigenen Produktionsbedingungen mit den gleichen Werkzeugen ist notwendig, will man nicht in die zwar immer illusorische, aber dennoch verführerische Position des neutralen Beobachters verfallen. So gibt es keine durchgängige Moral und selbst die Konklusion, dass es keine Moral gibt wird regelmäßig außer Kraft gesetzt, denn zumindest ein Zentrum benötigt die Serie, um ihren eigenen Fortbestand zu garantieren: Die Kern-Familie. Als verbindende Elemente kämen nun viele Möglichkeiten in Betracht, doch verbindet die Simpsons trotz aller oberflächlichen Differenzen das allzu menschliche Gefühl der Liebe. Der bisweilen ins kitschige abrutschende Familien-Pathos wurde der Serie oft vorgeworfen, zieht sich aber wie ein roter Faden durch alle Staffeln. Insofern hat Paul Crabtree seinen Finger auf die richtige Stelle gelegt, wenn er ausgerechnet zu den Simpsons seine „Romantic Miniatures“ schreibt. Insofern verzichten auch die Macher der Simpsons, die zwar die Postmoderne für alle ausleben, nicht ganz auf ein Zentrum, bzw. wollen es gar nicht. Und vielleicht ist diese Inkonsequenz ja auch symptomatisch für die gesamten Bemühungen, jedes und auch das letzte Zentrum tilgen zu wollen, die bislang immer wieder in ihren eigenen Interessen hängen geblieben sind. Dann wäre die Postmoderne eben auch nur eine Ideologie unter vielen, die sich, wie so viele vor ihr, ans Ende der Geschichte setzen wollte und letztendlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitern muss. Das aber trifft die Simpsons nur zum Teil, weil sie den Anspruch, die Speerspitze der Postmoderne zu sein ja nie selber formuliert haben. Diesen gibt es nur in der Vorstellung von Akademikern, die ihr eigene Faszination an der Serie zu erklären versuchen.

Seminarthemen

Aus dem bisher dargestellten ergeben sich die Themen eines möglichen Seminars als Vertiefung der angesprochenen Punkte. Darüber hinaus können noch weitere Aspekte angesprochen werden, die in diesem Text nicht behandelt wurden, z.B. was die Produktionsbedingungen und die Rezeption angeht.

1. Einführung. Im Wesentlichen der vorliegende Text.
2. Geschichte der Simpsons.
3. Drehbuchanalyse nach dem Drei-Akte Schema.
4. Produktion
5. Merchandising
6. Rezeption
7. Aufklärung
8. Postmoderne
9. Semiotik: Zeichen, Symbole und Chiffren
10. Verdichtung
11. Charaktere und Orte in Springfield
12. Selbstreflexion
13. Dimensionen der Wahrnehmung
14. Medien
15. Geschlechterbilder
16. Politik
17. Gesellschaft
18. Religion
19. Familienleben

Diedrich Diederichsen: Die Simpsons der Gesellschaft

(c) 2002 Jochen Koubek