Sounds Of A City: Die Kunst, den Stummfilm zu betonen

Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, Walter Ruttmann, D 1927, live vertont von Pianistin Eunice Martins

— Eine Kritik von Natalie Braun

Veranstaltung: Kino ist Musik. Sounds of a City, Steingraeber Kammermusiksaal, 12. Mai 2017

So wurde der Stummfilm noch nie gehört: Die Veranstaltung Kino ist Musik. Sounds of a City ist der musikalischen Begleitung des Films gewidmet. Das Highlight des Abends ist dabei die Live-Vertonung von Berlin. Die Sinfonie der Großstadt von der Pianistin Eunice Martins, am Flügel. Eingeleitet wird die Vorführung mit den Worten aus einer zeitgenössischen Filmkritik von Siegfried Kracauer: „Dieser Film, Berlin, ist eine schlimme Enttäuschung“. Ganz offensichtlich ist dies ein Film-Event der besonderen Art.

Berlin. Die Sinfonie der Großstadt ist einer der bekanntesten deutschen Stummfilmklassiker. Der dokumentarische Film von Walter Ruttmann zeigt einen Tag im Berlin der späten 1920er Jahre. Er ist zusammengesetzt aus vielen kleinen Ausschnitten, von der frühmorgendlichen Bahnfahrt in die Stadt über den hektischen Alltag auf den Straßen und in den Fabriken bis hin zur Abendunterhaltung und Freizeitgestaltung, in einer Metropole voller Energie und Rhythmus.

Bevor es an die Vertonung des Klassikers geht, werden, im ersten Akt der Veranstaltung, sozusagen als Einführung, die vielen Facetten der Filmvertonung von Studierenden der Universität Bayreuth veranschaulicht. Im Rahmen des Seminars Alte Bilder, Neue Klänge. Stummfilmvertonung, haben die Studierenden, unter der Leitung von Dr. Miriam Akkermann, selbst Neuvertonungen verschiedener Kurzfilme erarbeitet, die sie nun vorführen.

Die Performance ist experimentell und sehr vielseitig. Bereits das stampfende Einlaufen der Gruppe in den Kammermusiksaal verändert die Atmosphäre und baut Spannung auf. Es verdeutlicht, dass jedes Geräusch zur Vertonung sinnvoll eingesetzt werden kann. Die Studierenden verwenden Alltagsgegenstände wie Schrauben und Ketten als Instrumente, auf dem traditionellen Flügel klimpern sie dagegen scheinbar belanglos und wie zufällig herum. Dabei ist selbstverständlich nichts dem Zufall überlassen, gekonnt werden Lautstärke, Überraschungseffekte und der vorhandene Raum ausgenutzt. Die Klänge kommen von allen Seiten und ihr Ursprung wird dem Publikum nur teilweise offenbart. So gelingt es den Seminarteilnehmenden nicht nur passende Musik zu den gezeigten Kurzfilmen zu performen, sondern vielmehr die Stimmung der Bilder zu transportieren.

Das Publikum ist sehr gemischt und neben einigen Studierenden haben viele der Anwesenden vermutlich wenig filmanalytische Erfahrung. Nicht nur ihnen wird im ersten Akt der Veranstaltung die Bedeutung und Vielfalt von Ton zum Film nahegebracht. Als Zusehender entwickelt man eine besondere Sensibilität für die Facetten der musikalischen Begleitung. So schafft die Veranstaltung einen hervorragenden Rahmen für den folgenden Auftritt der professionellen Pianistin Eunice Martins, die auf Stummfilmvertonung spezialisiert ist.

Als Einleitung zur Vorführung von Berlin. Die Sinfonie der Großstadt wird, wie eingehend erwähnt, eine Filmkritik von Siegfried Kracauer vorgelesen. Zu sagen, Kracauer kritisiere den Film wäre eine Untertreibung, er zerreißt ihn vielmehr als „schlimme Enttäuschung“. Während er die Aufnahmen, ihre besonderen Perspektiven, sowie die technischen Fertigkeiten der Filmmacher lobt, stellt er sich die grundsätzliche Frage: „Aber ist das Berlin?“. Ihm fehlen die vielen Facetten der Stadt und eine soziale Botschaft. Die Problematik des Filmes sieht Kracauer vor allem in dem Ehrgeiz der Filmmacher, kein reines Portrait Berlins zu schaffen, sondern die Sinfonie der Großstadt zu komponieren. Dabei habe der Fokus zu oberflächlich auf dem Tempo gelegen. „Sie sind schlechte Komponisten gewesen“, prägnante Sätze, wie dieser, bleiben den Zuschauenden im Kopf, noch bevor sie den Film selbst gesehen haben.

Es ist sicherlich ungewöhnlich, dem Publikum vor dem Sehen eines Filmes eine solche negative Bewertung mit auf den Weg zu geben, denn sie kann einen von zwei Effekten mit sich bringen: Entweder es entsteht eine negative Voreingenommenheit oder es fallen, vor diesem Hintergrund, gerade die positiven Aspekte des Filmes besonders ins Auge. Kino ist Musik. Sounds of a City scheint es sich jedoch zur Aufgabe zu machen, das Publikum für die verschiedenen Aspekte der Vorführung im Voraus zu sensibilisieren und vielleicht sogar ein wenig zu schulen. Die Zeitreise in das Berlin der 1920er Jahre begehen die Zuschauenden mit einem Sinn für die Musik und einem kritischen Blick auf die Aussage des Films.

Die Filmemacher arbeiten in Berlin. Die Sinfonie der Großstadt  auf eine besondere Art und Weise mit Rhythmus. Wie schon der Titel verdeutlicht, liegt der Fokus der Filmemacher auf der Komposition. Sie verwenden dabei insbesondere den Schnitt als Werkzeug der Sinfonie. Der Tag beginnt in der Bahn mit einem hohen Tempo, auch im Filmschnitt. Darauf folgt ein langsames Erwachen der Stadt. Auf den Straßen steigt die Hektik des Alltages zunehmend an, was durch immer vollere Bildausschnitte verdeutlicht wird. Besonders prägnant sind die kurzen Schnitte, die hier den Ton angeben. Diese sind für die 1920er Jahre sehr ungewöhnlich, da damals noch in einer aufwendigen Technik Filmrollen geschnitten und geklebt werden mussten. Zur Mittagszeit, die anhand einer Nahaufnahme der Rathausuhr abgelesen werden kann, kehrt etwas Ruhe in den Film, nur um am Nachmittag wieder rasant anzusteigen. Der Abend, welcher der Freizeitgestaltung gewidmet ist wirkt energiegeladen, lässt den Film jedoch mit langsameren Schnitten und weniger kurzen Episoden ausklingen. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt folgt in seinen fünf Akten mit Rhythmus und Tempo dem Aufbau eines Musikstückes.

Kracauers Kritik der Oberflächlichkeit und sozialen Blindheit ist bei diesem Fokus auf den Rhythmus nicht weit hergeholt. Es lässt sich durchaus feststellen, dass die Komposition des Filmes über der Aussagekraft der Bilder steht. Hinter dem Arrangement der Szenen und des Filmschnitts geht das Gesamtbild scheinbar verloren. Der Film verzichtet auf eine konkrete Handlung und Hauptdarsteller. Die für die damalige Zeit ungewöhnliche Dynamik wird stellenweise vielleicht sogar übertrieben, denn der Film kennt kaum Ruhe und lässt es so nicht wirklich zu, einen Eindruck vom Alltag der Berliner aus den Bildern mitzunehmen. Die Filmemacher scheinen den Klassiker aber auch mit einem Sinn für die Möglichkeiten der Vertonung konzipiert zu haben. Die vielen Schnitte und Aneinanderreihungen von Szenen, ohne eine durchgängige Geschichte oder Schauspieler, setzen eine musikalische Begleitung, die einen Zusammenhang und ein Gesamtbild herstellt, geradezu voraus. Denn selbst ein Stummfilm wird eben nicht ohne Musik gesehen.

Der Flügel von Eunice Martins setzt ein, noch bevor der Film beginnt. Die Pianistin spielt eine lauter werdende Melodie. Während der Einblendung des Titels setzt sie fort, um dann in schnelle, rhythmische Akkorde überzugehen, die Tasten werden hart angeschlagen. Der Übergang in die erste Szene des Filmes ist fließend. Die Bilder zeigen eine Bahnfahrt. Sie führt durch Wiesen und Dörfer, den Stadtrand und letztlich zu einem Bahnhof in Berlin. Dabei sind nicht die Umwelt sondern der Zug, die vorbeiziehenden Gleise und die rhythmische Fahrt der Dampflokomotive im Fokus der visuellen Ebene. Eigentlich wirkt die Fahrt nicht angespannt, doch das raumfüllende Crescendo der Musik erweckt Assoziationen mit Aufregung, Spannung und vielleicht sogar einer Bedrohung. Von tiefen Akkorden bis hin zu hohen Tonanschlägen schöpft Martins den vollen Umfang des Klaviers aus. Genau wie der Zug kommt die Musik mit der Einfahrt in den Bahnhof langsam zum Stehen, was den Realismus der scheinbar ungestellten Szenen unterstreicht. Die Vertonung tritt hier ein wenig in den Hintergrund, eine Rolle die sie über den Film hinweg nur selten einnimmt. Die Klaviertöne dominieren meist das Geschehen der Szenen.

Die Melodien stellen eine Kontinuität zwischen den aneinandergereihten Szenen dar und verbinden unzusammenhängende Bilder. Das Geschehen wird dabei untermalt, aber auch auditiv ausgedrückt und einzelne Aspekte, wie der Rhythmus und die Stimmung, werden betont. Der Spannungsbogen wird über die Schnitte hinweg aufrecht erhalten. Dabei wird die Spannung auf unterschiedliche Arten erzeugt: ansteigende Akkorde, Wiederholungen, besonders laute, tiefe oder hohe Töne. Bei einer Einstellung von Zahnrädern der Maschinen in einer Fabrik erklingen die Töne bedrohlich, penetrant und in dem kleinen Kammermusiksaal geradezu unerträglich laut. Dabei handelt es sich ganz eindeutig um eine Interpretation der Bilder durch die Pianistin, ein Kommentar zu der erdrückenden Arbeits-Orgie in der Fabrik. Man fragt sich unweigerlich, ob die Szene vielleicht ganz anders hätte wirken können wenn sie stattdessen mit einer leichten, fröhlichen Melodie unterlegt wäre, die auf zufriedene Arbeitsamkeit schließen ließe.

Der Film ist alles andere als oberflächlich, denn die scheinbar belanglosen Bilder werden durch einen Spannungsbogen zusammengehalten und können durch das bedrückende Gefühl, das an vielen Stellen erweckt wird, als soziale Kritik an den Umständen der damaligen Bevölkerung verstanden werden. An dieser Stelle ist es leider nicht möglich, den eigenen Eindruck mit dem von Siegfried Kracauer zu vergleichen, denn er hat den Film selbstverständlich nicht mit der musikalischen Begleitung von Eunice Martins gesehen und die Musik hat viel Einfluss auf die Aussagekraft eines Stummfilms.

Die Vertonung ist eine äußerst subjektive Arbeit. Martins spielt den gesamten Film über ohne Noten, sie schaut ständig auf die Leinwand und bespielt den Film als wäre er ihr Notenblatt. Dabei sieht man ihre Finger unglaublich schnell über die Tasten gleiten. Die Absenz eines Notenblatts bedeutet auch, dass die Pianistin den Film sicherlich nicht zwei Mal genau gleich begleitet. Die Musik wird durch ihre aktuelle Einstellung und den Auftrittskontext beeinflusst. Genau das macht die Live-Vertonung so besonders, so persönlich. Es handelt sich dabei um Eunice Martins Meinung zum Film und ihrem eigenen Kommentar zu den Themen. Die Pianistin, die selbst aus Berlin stammt, hat womöglich eine ganz andere Perspektive auf die Bilder, als die Anwesenden im Publikum. Nicht nur anhand des langanhaltenden Applauses am Ende, den man aus dem Kino nicht kennt, wird klar, dass es viel mehr eine Vorführung von Eunice Martins war, als eine Vorführung des Werkes von Walter Ruttmann.

Der dokumentarische Stummfilm Berlin. Die Sinfonie der Großstadt ist sehr offen, denn durch die kompositorische Form sind vielseitige Interpretationen möglich. Ob das der brillanten Konzeption durch die Filmmacher oder ihrem geringen Interesse an der Aussagekraft geschuldet ist, lässt sich schwer sagen. Es ist aber auch unerheblich, denn die Live-Vertonung des Stummfilmklassikers ist in jedem Fall ein besonders Erlebnis.

Die Vertonung gibt die Möglichkeit den Fokus auf bestimmte Stimmungen und Gefühle zu legen und durch den Kommentar der Szenen eine eigene Aussage zu konstruieren. Den Film mit Musik zu betonen heißt, Akzente zu setzen und damit Bedeutung zu schaffen. In der heutigen Zeit wird die Filmmusik häufig unterschätzt, obwohl sie bei der Rezeption einen so hohen Stellenwert einnimmt. Sounds of a City schafft es den Zuschauer eben dies zu vermitteln, nicht zuletzt durch einen gelungenen ersten Akt und die Lesung einer zeitgenössischen Filmkritik. Wer die Chance hat, die Live-Vertonung eines Stummfilms, wie Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, mitzuerleben, der sollte sich auf einen solchen Abend unbedingt einlassen, um ein ganz neues Gefühl für Musik und Film zu bekommen.