Die Vertonung des Tonlosen, oder:
Musik sagt mehr, als tausend Worte
Zur Veranstaltung Sounds of a City, am12. Mai 2017 im Kammermusiksaal des Steingräber Hauses in Bayreuth
— Eine Kritik von Marlene Kriegsmann —
Bis zum letzten Platz und noch darüber hinaus besetzt ist der Kammermusiksaal des Steingraeber Hauses an diesem Freitagabend im Mai. Das bunt gemischte Publikum hat sich für einen Stummfilmabend eingefunden, der unter dem Titel SOUNDS OF A CITY steht. Dahinter verbirgt sich jedoch kein durchschnittliches Filmscreening. Denn Filme spielen an diesem Abend keineswegs die alleinige Hauptrolle. Der zweite Protagonist ist nämlich trotz stummer Bilder der Ton, oder besser gesagt die Töne. SOUNDS OF A CITY ist konzipiert als Stummfilm-Musik-Abend in zwei Akten, was nichts weniger bedeutet, als dass die gezeigten filmischen Aufnahmen live und vor Ort neu vertont werden. Eine nicht wenig anspruchsvolle Aufgabe, welcher sich zwei Parteien annehmen – Studierende der Medienwissenschaft der Universität Bayreuth und die professionelle Pianistin Eunice Martins – und, so viel sei an dieser Stelle schon verraten, sie mit Bravur erfüllen.
Den Anfang machen die Studierenden. In dem zweisemestrigen Seminar „Alte Bilder, neue Klänge. Stummfilmvertonung“ haben sie selbst alle Klänge und Melodien komponiert, die die fünf im ersten Akt gezeigten Kurzfilme begleiten. Doch das Konzert stellt nicht nur den Abschluss des Seminars dar, sondern gilt für die Kursteilnehmer*innen gleichzeitig als Prüfungsleistung. Von Aufregung ist unter den jungen Musikern jedoch nichts zu spüren, als sie von den Universitätsdozentinnen Dr. Kathrin Rothemund und Dr. Miriam Akkermann angekündigt, den Abend eröffnen. Schon der Einzug der Studierenden mit ihren Instrumenten in den Saal ist dabei eine kleine Performance und deutet an, wie vielfältig der Abend gestaltet ist. Die fünf Kurzfilme, die im ersten Akt gezeigt werden, wurden den Studierenden von den Filmemachern offiziell für eine Neuvertonung zur Verfügung gestellt. Darunter: Four Golden Rules to Being an Oil Junkie, Das Hemd und Expedition to the South Pole. Geschickt greifen die Studierenden in ihren Kompositionen die Titel und Thematiken der Filme auf und machen deutlich, dass bei der heutigen Veranstaltung die Musik tonangebend ist. Es dauert nicht lange und schon ist man eingenommen von den mechanischen, blechernen Geräusche die während des erste Films den Kammermusiksaal aus allen Richtungen erfüllen. Es scheppert, rasselt und klackert, wenn sich die animierten Baugeräte im Film bewegen. Einen kleinen Bruch dazu stellen die anfänglich sphärischen Klänge dar, die zum zweiten Film folgen. Ruhige und Xylophon-artige Töne, die fast in ein Ticken übergehen, begleiten die Geschichte des titelgebenden Hemds. Das isst und isst und isst, während durch die Geräuschkulisse der Musiker*innen langsam Spannung aufgebaut wird. Die Atmosphäre wird nervöser, die Klänge lauter, eine Zeitung zerknittert und raschelt. Was passiert jetzt, fragt man sich? Die Musik wird immer schriller, aufreibender, bis das Hemd auf einmal verstopft ist – und ein ganzer Mensch aus ihm herauskommt. Das schlimmste ist geschafft, oder doch nicht? Die Anspannung löst sich kurz, die Musik beruhigt sich, doch im Hintergrund ist immer noch das Ticken einer Uhr zu hören und ein Glockenschlag; der Rhythmus verlangsamt sich immer weiter. Und dann, eine kleine Schrecksekunde im Publikum: der Mensch platzt, Essen verteilt sich überall auf dem Boden. Auf die Überraschung des Knalls folgt kurz Stille im Saal, dann erleichterte Lacher. Man ist für ein paar Momente wieder in der Realität und merkt zum ersten Mal, wie involvierend und einnehmend die Vertonung der Studierenden ist. Den Zuschauer*innen ist jedoch nur eine kurze Atempause gewährt, schon geht es weiter mit den nächsten Filmen. Langsame, melancholische Klaviermelodien begleiten die Expedition zum Südpol, prasselnde Regengeräusche sorgen für Ruhe, doch das pochende Geräusch des Herzklopfens hält die Spannung aufrecht und verleiht der Reise des Kindes eine gefühlvolle Note. Emotionalität hat im nächsten Film nichts verloren. Trommeln, Science-Fiction Geräusche und technische Töne sind jetzt an der Reihe, während sich die scheinbar aus Computerkomponenten und anderen Elektronikteilen zusammengesetzten Aliens auf der Leinwand umhertreiben. Ungewöhnliche Wesen bevölkern auch den letzten Film des Blocks. Insektenartige, metallene Gebilde huschen übers Bild, breiten sich überall aus. Ihre Fortbewegung wird zunächst unterlegt von melancholischen Klängen, Geräuschen aus der Natur; die „Grillen“ zirpen und wieder prasselt der Regen nieder. Dazu mischen sich flimmernde Geräusche, wie Funken, die aus Metall bersten, als hätte der Regen eine Elektrizität entfacht. Unter dieser Welle von Geräuschen entfaltet sich eine von Klavier und Gitarre getragene Melodie. Langsam wird die Szenerie und mit ihr die Klänge optimistischer und lebendiger, wenngleich stets ein melancholischer Unterton mitschwingt. Bald rasselt, klackert und musiziert gefühlt der ganze Raum, während sich die Wesen aus Metall immer weiter ausbreiten und ihrerseits den Raum der Filmwelt für sich einnehmen. Die Welt so scheint es, gerät aus den Fugen. Langsam entwirren sich die verwickelten Geräusche wieder, klingen aus, bis nur noch der ruhige Sound zu hören ist, der den Film eröffnet hat. So endet der 1. Akt des Abends für einen Moment in Stille. Diese ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn schon ein paar Augenblicke später erhalten die Studierenden Ihren verdienten Applaus.
Auch im 2. Akt der Veranstaltung findet wie angekündigt eine Stummfilmvertonung statt. Ansonsten hat dieser jedoch wenig mit dem ersten Teil des Abends gemein. Es spielt Eunice Martins, ihres Zeichens professionelle Pianistin und Komponistin und unter anderem Hauspianistin des Kinos Arsenal in Berlin, wo sie seit 2000 eine Vielzahl an Stummfilmen am Klavier begleitet hat. Berlin spielt neben ihr auch die Hauptrolle in diesem 2. Akt. Berlin, die Sinfonie einer Großstadt aus dem Jahr 1927 unter der Regie von Walther Ruttmann entstanden, beschreibt ohne erzählerische Hinweise in fünf Akten einen Tag in Berlin. Bevor Eunice Martins ihr Können unter Beweis stellen darf, zitiert Kathrin Rothemund eine Rezension Siegfried Kracauers zum Film. Dieser attestierte dem Film zwar ein berauschendes Gefühl, empfand ihn jedoch als zu kompositorisch. Doch letzteres kommt der Pianistin vielleicht nur zugute. Gleich ihr erster Akkord ist hoch, schrill und holt auch die Letzten aus der Pause zurück. Doch nach diesem Weckruf geht es freundlicher weiter mit einer beschwingten, pulsierenden Melodie. Der Zug fährt weiter in Richtung Berlin und Martins übersetzt gekonnt das Rattern der Dampflok und die Szenen der Landschaft in Musik. Vorfreudig und gespannt ist die Atmosphäre, doch immer mischen sich auch bewusst disharmonische Töne in ihr Spiel. Die Ankunft des Zuges ist begleitet von Stakkatos, die in die Melodie eingewoben werden, bis die Lok gänzlich steht. Im Nachhall sind langsam einzelne Töne zu hören, die fast ein bisschen an das weltbekannte Thema aus Abbitte erinnern, während die Stadt von oben betrachtet wird. Langsam und fast mystisch anmutend ändern Melodie und Filmaufnahmen ihre Richtung. Fassaden, Industriegebäude, Schaufenster, Straßenzüge, kurz: Impressionen der Stadt reihen sich ruhig aneinander und unterlegen die fast menschenleeren Aufnahmen. Stück für Stück erwacht die Stadt zum Leben, die Straßen füllen sich, Tore öffnen sich und auch die Melodie wird belebter, fröhlicher. Im Stadtalltag tut sich etwas. Straßenbahnen, Züge und Bahnhöfe werden gezeigt und die immer zahlreicher werdenden Bewohner der Stadt. Ein Strom von Menschen muss sich mitten in der Stadt durch eine Viehherde drängen. Das Vieh als Symbol für den Großstadtmenschen? Während sich die Hebel der Stadt in Bewegung setzen, wird auch die Musik maschineller, rhythmischer, symbolisiert mit ihren abgesetzten Akkorden die Akkordarbeit der Maschinen. Der erste Akt der Sinfonie Berlins ist beendet und geht über in den zweiten, in dem das Alltagsleben der Stadt im Vordergrund steht. Menschen in großen Mietshäusern, beim Einkaufen, Putzen, Arbeiten. Die Stadt ist jetzt voller Leben, immer mehr Vorhänge und Rollläden werden geöffnet und begrüßen den Tag. Fröhlich und geschäftig geht es zu in diesem Akt und immer wieder wird auch hier Bezug genommen auf das Anfangsmotiv der Eisenbahn. Der dritte Akt widmet sich den Seiten Berlins, die weniger pittoresk sind: Verhaftungen, Demonstrationen, Bestattungen, Bettler. Diese Darstellungen aufgreifend mischen sich nun vermehrt tiefe Töne und Dissonanzen in die oberflächlich immer noch beschwingte Melodie. Stadt und Musik werden unvorhersehbarer. Der vierte Akt ist der Ruhe des Nachmittags gewidmet und so ist auch die Klavierbegleitung weniger offensiv lebendig. Zu sehen sind gepflegte Parks mit gepflegten Spaziergängern, spielende Kinder, Hinterhöfe ärmerer Häuser, edle Caféhäuser, Flusskreuzfahrten, Fabriken. Kurzum: ein Sammelsurium an Eindrücken, vermeintlich wahllos gemischt, aber doch mit Kalkül sortiert. Denn die düstereren Szenen kulminieren schließlich in den auf der Leinwand erscheinenden Schlagwörtern wie KRISE und GELD, die dem Publikum wie ein Vorwurf, gar eine Drohung, entgegen geworfen werden. Der traurige Höhepunkt folgt jedoch erst darauf, mit einem tragischen Selbstmord durch einen Sprung in die Tiefe. Dazu gibt es schwindelerregende Kamerafahrten zu ebenso schwindelerregenden Klängen des Klaviers. Nur langsam kommen Bild und Musik wieder zur Ruhe mit dem Einsetzen des Feierabends. Die Krise scheint überwunden, das Leben geht weiter – am Badesee, bei Autorennen und anderen Sportveranstaltungen. Nun der Schlussakt, Berlin bei Nacht. Bezeichnenderweise wird es auch im Steingraeber Haus zunehmend dunkel, während draußen ebenfalls die Nacht hereinbricht. Ein Zufall, wahrscheinlich, aber man hätte es nicht schöner planen können. Leuchtreklamen erscheinen nun auf der Bildfläche und wechseln sich ab mit Konzertaufnahmen, Zirkusvorstellungen, Revue-Veranstaltungen. Berlin, von seiner vergnügten, fast verruchten Seite. Die Vorstellungen gehen zu Ende, die Stadt kommt feierlich zur Ruhe und mit ihr die Musik.
Ebenso zelebrierend ist der Applaus, den sich Eunice Martins nach ihrer Performance abholen darf. Hätte die Pianistin den Film mit ihr vorliegenden Noten begleitet, so wäre dies bereits beeindruckend gewesen. Dass sie die 60 Minuten gänzlich ohne sichtbare Komposition vertont hat, setzt dem Ganzen jedoch noch ein sehr großes i-Tüpfelchen auf. Ironischerweise liegt darin jedoch auch ein kleiner Wermutstropfen dieses ansonsten sehr stimmigen Abends: Am Ende der so einnehmenden Aufführung der professionellen Pianistin hat man die Studierenden und ihren ebenfalls beeindruckenden ersten Akt schon fast vergessen.
Langsam erwacht das Publikum im Kammermusiksaals wieder aus dem Rausch der Bilder und Töne, es wird sich verabschiedet und der Abend endet ohne End-Credit-Score. Das ist jedoch nicht weiter schlimm, denn die Vielzahl an Klängen und Melodien hallt noch lange im eigenen Kopf nach. Berlin mag die Sinfonie einer Großstadt gewidmet sein, doch auch im deutlich kleineren Bayreuth funktioniert diese ganz prächtig.