Duett der Sinne im Bayreuther Steingraeber & Söhne-Haus

— Eine Kritik von Alexander Wax

Dokumentarfilm mit musikalischer Umrahmung in zwei Akten:

In besonderer Atmosphäre wurde innerhalb der Veranstaltung Sounds of a City – Ein Stummfilm-Musik-Abend in zwei Akten ein Filmabend begangen, der bereits mit Begeisterung und Vorfreude erwartet wurde. Ausgerichtet wurde der Abend von der Medienwissenschaft der Universität Bayreuth in Unterstützung von Kino ist Programm und der Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne. Sounds of a City, der Titel der Veranstaltung lässt bereits schon ein wenig erahnen, was der Inhalt des Abends sein könnte. Abgehalten wurde der Stummfilm-Musik-Abend nämlich im Kammermusiksaal der traditionsreichen Klavierbauer.

Akt 1: Die Kurzfilme

Thematisch lässt sich der Abend in zwei Teile oder besser gesagt Akte unterteilen. Der erste Akt steht unter dem Motto „Alte Bilder, neue Klänge“. Besonders auf das Zusammenspiel von Bild und Ton kommt es in diesem Teil der Veranstaltung an. Studierende der Medienwissenschaft Bayreuth performen mit teils eigenes entwickelter Instrumente neue Vertonungen zu den fünf gezeigten Kurzfilmen. Die Studierenden haben diese Neuvertonungen innerhalb des Seminars „Alte Bilder, neue Klänge. Stummfilmvertonungen“ erarbeitet. Die Aufführung des Einstudierten bilden somit die Prüfungsleistung für das AV-Medien-Seminar. Thematisch könnten die Stumm-Kurzfilme unterschiedlicher nicht sein. Im ersten Film mit dem Titel Oiljunkie begleitet man eine Animationsfigur durch seinen Tag, umrahmt von den metallenen Geräuschen der Instrumente im Musiksaal. Im zweiten Stummfilm – The Shirt – lernen wir von einem Hemd, dass man eben doch ist, was man isst. Die Geräusche hierzu sind punktgenau mit den Bewegungen des Hemdes abgestimmt. Im dritten Stummfilm, der den Titel The Expedition to the Southpole trägt, lädt uns der Protagonist – ein kleiner Junge – ein, ihn auf seinem Weg zum Südpol zu begleiten. Musikalisch wird der Hauptcharakter auf extradiegetischer Ebene von Flügel und Gitarre begleitet. Auf innerdiegetischer Ebene werden die Geräusche durch die Eigenkreationen der Studierenden umgesetzt. Und auch bei Film Nummer vier mit dem Titel Canned, der den dritten Platz bei den Cannes-Festspielen im Jahre 2003 gewonnen hat, lauschen die  Zuhörer den von den Studierenden perfekt getimten Geräuschen. Den Abschluss des ersten Blocks im ersten Akt bildet der Stop-Motion-Film Amnesia. Es geht darum, dass ameisenartige Insekten die Welt zerstören und alle Dinge, die sie brauchen können, mit in ihren entfernten Bau nehmen. Hierbei scheint es den Tieren egal zu sein, ob es sich nun um Glasfassaden von Hochhausbauten oder Holztüren eines Wohnhauses handelt. Auffällig ist, dass der Ton zunehmend mit der Aktivität der Insekten aggressiver wird. Um die Töne der Insekten zu erzeugen, wurden von den Studierenden Boxen verwendet, die mit Materialien wie kleinen Kunststoff-Splittern gefüllt sind, die sehr laut klirren, wenn sie aneinanderstoßen. Das Chaos der Bilder spiegelt sich im Ton wider, jedoch werden sowohl die Bilder als auch die Geräusche schnell sehr monoton und tragen so zu einer gewissen Unruhe bei. Das laute Klirren erzeugt eine unangenehme Stimmung, die allerdings lediglich der Länge des Kurzfilmes an sich zuschulden ist, nicht dem Bemühen der Studierenden. Gefolgt von langem Applaus und begeisterten Gästen beginnt nach einer kleinen Pause der zweite Akt des Abends.

 

Akt 2: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt

Spätestens jetzt wird klar, warum sich der Kammermusiksaal der Klavierbauer Steingraeber & Söhne sich für einen musikalischen Abend dieser Art besonders eignet. In einer Atmosphäre, in der die Musik zuhause ist, scheint sich auch Eunice Martins wie zuhause zu fühlen. Eunice Martins, die Hauspianistin des Kino Arsenal des Instituts für Film- und Videokunst Berlin war mit ihrer Musik bereits bei zahlreichen internationalen Stummfilmfestivals vertreten. An diesem sonnigen Mai-Abend hat sie es auf Einladung der Medienwissenschaft der Universität nach Bayreuth geschafft, um die Bilder des Stummfilms Berlin – Die Sinfonie der Großstadt mit Begleitung am Flügel zu untermalen. Dabei unterscheidet sich der Film von allem bisher Gesehenem an diesem Abend, handelt es sich bei dem Film von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1927 doch um eine Art des frühen Dokumentarfilms. Einzuordnen ist Berlin – Die Sinfonie der Großstadt in die Filmgattung des nonverbalen Dokumentarfilms. Zeitgenössische Kritiken an diesem Film fallen durchaus durchwachsen aus. So bewertet Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung den Film als negativ und oberflächlich, Rudolf Kurtz hingegen beschreibt in der Lichtbild-Bühne Ruttmanns Bilder Berlins als die Großstadt, wie sie ein Künstler erfühlt.

Nicht umsonst wird diese Gattung auch als sinfonischer Dokumentarfilm bezeichnet. Beste Voraussetzungen also für Ruttmanns Werk, um im Steingraeber-Haus von Martins am Flügel begleitet zu werden. Doch was macht einen nonverbalen Dokumentarfilm aus? Besonderes Augenmerk wird vom Filmemacher bei dieser Art des nonfiktionalen Films auf die Bild-Ton-Montage gelegt. Der Film ist losgelöst von Konventionen des Plots und des Textes. Jedoch wird eine Geschichte erzählt, deren Strukturen aus der Literatur- bzw. Musiktheorie herrühren. Im Fall von Berlin – Die Sinfonie der Großstadt, ist der Film in fünf Akte gegliedert. Die Besonderheit am sinfonischen Dokumentarfilm ist, dass das Tempo der Bilder und der Musik ein großes Ganzes ergeben. Es wird klar, dass aus diesem Grund die Montage mit großer Sorgfalt umgesetzt werden muss. Eine Herausforderung für Musiker, die solch einen Stummfilm-Klassiker live belgeiten, so scheint es. Zumal der Film mit insgesamt 1.466 Metern Länge nicht gerade eine kurzweilige Angelegenheit darstellt. Dies sind immerhin 64 Minuten Filmmaterial. Für die Stummfilmpianistin stellt dies jedoch kein Problem dar. Mit virtuosen Einlagen und teilweise spontan interpretierten Passagen untermalt Martins das, was im Film zu sehen ist. Wie bereits beschrieben ist der Film in fünf Akte gegliedert. Die Aufteilung des Filmes ist banal und genial gleichermaßen, denn die Einteilung erfolgt in fünf unterschiedliche Tageszeiten. Je nach Tageszeit sind natürlich auch die Tätigkeiten der im Film zu sehenden Bewohner Berlins immer unterschiedlich. Der Film beginnt mit Bildern eines Zuges, dessen Ziel sehr schnell klar wird, Berlin. In Berlin angekommen scheint die Stadt noch zu schlafen, es sind kaum Menschen unterwegs, die Sonne quält sich nur langsam durch die schwarz-weißen Wolken auf der Leinwand. Doch dann, zu Beginn des zweiten Aktes, kommt Berlin in Fahrt. Bilder von Fabriken und Handwerk zeigen, welchen Berufen die Berliner in den Zwanzigerjahren nachgehen und womit sie ihre Brötchen verdienen. Man wird mobil in Berlin, die Kutschen werden durch neue Automobile ersetzt und die U-Bahnen sind gefüllt mit Menschen auf ihrem Weg in die Arbeit. Mit dem steigenden Tempo der Schnittfolgen erhöht sich auch die Geschwindigkeit in Eunice Martins Spiel. Es werden Medien gezeigt, die zu dieser Zeit modern und neuartig sind, Frauen in Telefonzentralen und Arbeiter an Druckmaschinen. Die Hektik ist zu spüren, nicht zuletzt durch die fast schon bedrohlich wirkenden Klänge des Flügels, der sich links neben der Leinwand befindet, auf die die Zuschauer gebannt ihren Blick auf das Jahr 1927 gerichtet haben. Ihre Ohren jedoch verbleiben in der Gegenwart, um den Klängen der Pianistin zu lauschen, die das Puzzle des Filmes erst komplettieren. Doch der Zuschauer wird nicht nur in die Arbeitswelt mitgenommen, auch auf besondere Anlässe wie Hochzeiten wird er im dritten Akt eingeladen.  Im vierten Akt thematisiert Ruttmann die Situation der Ärmsten Bewohner Berlins. Eine Frau ist sogar so verzweifelt, dass sie sich aus Verzweiflung in die Spree stürzt, umringt von Schaulustigen. Diese Szene ist die einzig gestellte im gesamten Film.

Grell und ausgelassen allerdings schildert er das Ausgehverhalten der Berliner. Wenn die Sonne sinkt, übernehmen die hellen Leuchtreklamen an jeder Außenfassade Berlins das Beleuchten der Stadt und geben einen Einblick in das, was in den Clubs und Bars der Hauptstadt nach einem langen Arbeitstag passiert. Kino, Varieté-Theater und Tanz stehen auf dem Programm für die Berliner der Goldenen Zwanziger. Auch ein Feierabendbier im überfüllten Gasthaus gönnt man sich, nebst dem Boxkampf als sportliches Event des Abends. Und so ausgelassen die Stimmung auf der visuellen Ebene ist, genauso setzt die Pianistin die Stimmung auch auf auditiver Ebene für die Gäste im Kammermusiksaal fort. Die Besonderheit von Berlin, Sinfonie der Großstadt liegt darin, dass Ruttmann versucht hat, das Leben der unterschiedlichen Menschen, Klassen und Stadtteile so einzufangen, dass ein individueller Gesamteindruck beim Zuschauer entstehen kann. Ruttmann fängt alle Eindrücke spontan ein, ausgenommen der Spree-Szene. Alles andere sind spontane Momentaufnahmen, die den Anspruch erheben, das „echte“ Leben, das sich in den Straßen der deutschen Hauptstadt abspielt, einzufangen.

Auf akustischer Ebene wird den Zuhörern ein Interpretationsangebot des Filmes geliefert, das sich keinesfalls ausblenden ließe. Ansonsten würde das Konzept des nonverbalen bzw. sinfonischen Dokumentarfilms nicht mehr greifen. Durch das zu dieser Zeit völlig neuartige Konzept, auf eine Dramaturgie im aristotelischem Sinne vollständig zu verzichten, muss dieser Film in den Zwanzigerjahren Zuschauer gleichermaßen fasziniert und begeistert haben. Durch die anspruchsvolle Machart und den Einsatz unterschiedlicher Schnitteffekte wie Jump- und Match-Cuts entwickelt der Film eine ganz eigene Dynamik. In diese Dynamik der Bilder gilt es sich besonders bei einer Veranstaltung dieser Art als Musiker und Zuschauer bzw. Zuhörer zu gleichen Teilen einzufinden. Diese Eigenart des Films ist nicht zuletzt seiner Gattung geschuldet.

Die von Ruttmann gewählte Gattung des Dokumentarfilms hat die Möglichkeit, das zu verdichten, worauf es dem Regisseur in seinem Film ankommt. Durch das Wegfallen von Text und Dramenstruktur muss er sich nicht an Erzählkonventionen des Spielfilms halten. Durch das Wegfallen der Originalmusik an diesem Abend gibt Ruttmann uns einen neuen Ansatzpunkt mit auf den Weg, eine neue Art, seine Bilder zu vertonen und somit auch zu interpretieren. Mit nichts weiter als einem Flügel zeigt Eunice Martins an diesem Abend, dass es nicht immer ein Orchester braucht, um einen Stummfilmklassiker wie Berlin – Die Sinfonie der Großstadt zu interpretieren.  Denn sie tut dies auf eine Art und Weise, dass das Publikum an diesem lauen Sommerabend im Mai begeistert den Steingraeber-Saal in Bayreuth verlässt. Das Zusammenspiel von Bild und Ton waren für diesen Abend immanent. Sowohl die Studierenden als auch die Pianistin haben es mit ihrer Musik geschafft, ein Programm entstehen zu lassen, das noch lange im Gedächtnis und Gehör bleiben wird.  Eine Veranstaltung, die es möglichst schnell zu wiederholen gilt.