Vom experimentellen Kurzfilm bis zum kultigen Werbespot: Die Mediennacht Bayreuth 2017

— Eine Kritik von Sabrina Heldmann —

Ob experimenteller Kurzfilm, Angriff einer Gruselpflanze à la Little Shop of Horrors oder die feine Animation einer Schnecke– in der Mediennacht 2017 begeisterten Studierende der Medienwissenschaft der Universität Bayreuth und Freischaffende mit eigenen filmischen Kompositionen. Veranstaltungsort war auch in diesem Jahr das Kolpinghaus Bayreuth, das mit großer Leinwand, Bühne und samtroten Vorhängen seinen Besuchern, darunter Studierende, Lehrende, Eltern, Freunde und Bayreuther Bürgern, die passende cineastische Atmosphäre bot. Ganz im Stil großer Galaveranstaltungen führte das Moderatorenduo Jonas und Laura Wirthmüller mit spritzigen Dialogen durch den Abend und sorgte trotz „honigwarmen Saal“ für anregende Unterhaltung. Zu Lachern im Publikum führte außerdem immer wieder eine dramatische Live-Schaltung an die Hauptzentrale der Medienwissenschaften, dem Geschwister-Scholl-Platz. Gekonnt setzten hier die „GSP-Überlebenden“ den Countdown für den Start der neuen Website „Schaufenster“ in Szene, auf der künftig filmische Projekte von Studierenden vorgestellt werden.

Viel Blut und handysüchtige Twens

Technisch experimentierfreudig und düster, bildete der Kurzfilm Let go and say Goodbye von Fabian Merks den Auftakt der Mediennacht. Passend zu dem Titel wurde der Song Let it go an say Goodbye eigens für den Film geschrieben und mit Sabrina Diekow vertont. Das Lied wird zum tragischen Leitmotiv des Films und lässt schon zu Beginn der Reise Böses ahnen. Die vier Jugendlichen Felline, Lukas, Cara und Mika machen sich mit dem Auto auf den Weg, um am Meer zu zelten. Doch es kommt anders als geplant: Das Auto wird auf der Fahrt in einen Unfall verwickelt und überschlägt sich. Feline und Lukas haben als einzige den Unfall überlebt. Doch Lukas will die Situation nicht wahrhaben und versucht absurderweise noch das Warndreieck aufzustellen, während Felline die Verzweiflung kaum erträgt. Ähnlich wie in dem Mindgame Movie The sixth sense wird erst Ende der Narration klar, als Lukas sich selbst und seine Freunde im Wagen liegen sieht, dass alle vier tot sind.

Ganz anders kommt die Mockumentary „73 Grad“ daher, die schon in ihrem Titel auf sein stilistisches Vorbild im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verweist.

 

Dissonanz und kosmische Verbundenheit

Neben witzigen und originellen Darbietungen, wie dem mehrteiligen Pizza-Spot Weezzard‘s, der mit seinem Triptychon aus Pizza, Weed und Brownies immer wieder für Lacher sorgte, schlugen die jungen Filmtalente in ihren Projekten aber auch ernstere und leisere Töne an. So verbindet ein poetischer Dialog die Geschichte zweier Liebenden in dem Roadmovie Dissonanz über die Zeit hinweg.

Ben (Ulrich Allroggen), wahrscheinlich Ende vierzig- schütteres Haar und einzelne graue Strähnen können sein Alter nicht mehr verleugnen – sitzt auf dem Sofa und dreht Zigaretten. Schließlich wandern seine Augen zu einem Notizbuch, das ihm einen Rückblick in das Jahr 1993 eröffnet. In der Totale blicken wir auf ein Auto, dessen Straße das landschaftliche Idyll durchkreuzt. Mia (Romina Küper) und Ben (hier: Maximilian Klas) feiern den Sommer ihres Lebens. Frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen und den Köpfen voller Poesie reisen sie quer durch das Land, übernachten im Zelt und halten, wo es ihnen beliebt. Aber Mia kommen Zweifel. Sie sieht ihr momentanes Dasein nur als vorübergehende Weltflucht, bevor sie nun „vernünftig“ wird und einen konservativen Lebensweg einschlägt. Ben, der nicht an Morgen denkt, wird für sie immer stärker zum verantwortungslosen Träumer, der versucht, der Realität auszuweichen. Der Gleichklang zwischen der beiden, die offiziell kein Paar und doch eigentlich Liebende sind, gerät in Schwanken. Ihre Beziehung entlädt sich an den Polen von Spießbürgertum und Weltenbummelei und endet dabei nicht nur in politischen Grundsatzdebatten, sondern auch in gegenseitigen Schuldzuweisungen und verletzten Gefühlen. Dabei beginnen sich Bens Notizen und  Mias Tagebucheinträge von 1994 zu überlagern. Trotz aller Dissonanz scheinen die beiden auf kosmische Weise zeitlich miteinander verbunden, so als griffen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Etwa dann, wenn Ben und Mia 1993 im Zelt liegen und Ben darüber sinniert, ob er sein Leben bereits schon einmal gelebt hat. Handlungsstränge dürfen nicht mehr horizontal, sondern müssen vertikal gelesen werden. „Bekomm dein Leben auf die Reihe!“, ruft Mia Ben scheinbar durch die Zeit entgegen. Ben wiederum schreibt „Der Sommer sitzt hinter den Knospen der Schläfrigkeit vergangenen Winters“.

So unterschiedlich die Lebensentwürfe der beiden scheinen, umso ähnlicher sind doch ihre Handlungsmotive. Beide fürchten sich auf ihre Weise vor der Zukunft. Während Mia Angst hat, ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden und in konservativeren Lebenskonzepten Halt sucht, dadurch übereilt, flüchtet Ben vor der Verantwortung und lehnt Mias Vorstellungen durchweg ab, zögert hinaus. Daraus ergibt sich nicht nur eine inhaltliche Dissonanz, sondern auch eine zeitliche, was sich umso stärker auch in dem zeitversetzten Dialog widerspiegelt. Auf einer erzählerischen Metaebene, in denen die Gedanken und Gefühle beider in Dialog treten, nähern sich Ben und Mia wieder an. „Ich stehe im Buch der Rekorde als der müdeste Mensch der Welt“, gesteht Mia ein und erweckt den Eindruck, als nehme erst zwischen den Zeilen des Tagebuchs ihr Zweifeln ein Ende. Die zahlreichen Rückblicke aus ihrer Perspektive machen außerdem deutlich, wie sehr sie sich der Zeit mit den gemeinsamen Sommern mit Ben verbunden fühlt. Und aus der Gegenwart antwortet Ben: „Du bleibst der einzige Mensch dessen und Taten und Worte Bedeutung für mich haben.“

Den Bayreuther Studierenden Maximilian Singer (Drehbuch), Linus Joos (Regie) und Lena Oelschlegel (Produktion) ist mit Dissonanz ein lyrisches Gesamtkunstwerk, das vor allem von dem intensiven Spiel seiner Darsteller getragen wird. Daneben beeindrucken aber auch ästhetische Momentaufnahmen, die den Film seine eigene Sprache zwischen poetischen Dialog und dem Fortschreiten der Handlung finden lassen.

 

Im Zwielicht

Ein Höhepunkt des Abends war sicherlich der fünfzehnminütige Kurzfilm „August 96‘“ von Mariano Falabretti (Drehbuch und Kamera), Vera Heldmann (Regie), Jana Galinski und Lena Weckwert (Produktion), die sogar den bekannten Schauspieler Ralf Bauer für ihr Projekt verpflichten konnten. Mit ihrem Abschlussprojekt, das die Krankheit Depression thematisiert, gelang es den Absolventen des Studiengangs Medienwissenschaft und Medienpraxis, nicht nur mit einem tiefgehenden Plot zu begeistern, sondern sowohl narrativ als auch stilistisch zu überraschen.

Die Welt des Protagonisten (Ralf Bauer) hat an Farbe verloren. Alleine in einer kargen Wohnung klammert er sich mithilfe alter Vhs-Kassetten an die Erinnerung seiner Familie. Es folgen Rückblicke: Bauer und seine Frau im Juli 1989 kurz vor der Geburt seiner Tochter. Dann Sommer 1992, der dritte Geburtstag, Tochter Lara (Laura Sophia Landauer) bläst vergnügt die Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen aus. Doch das Idyll wird von der Gegenwart eingeholt. Plötzlich hört Bauer laute Mädchenschreie. Wie eine dunkle Vorahnung wird das scheinbare Idyll von Bauers Erinnerung durch ein kurzes, aber lautes Schreien erfüllt. Scheinbar das Kind aus der Wohnung nebenan. Bauer wirkt verzweifelt, eilt zur Haustür der Nachbarswohnung. Doch die Nachbarin (Fee Denise Horstmann) zeigt sich verwundert und gibt an, ihre Tochter habe nicht geschrien. Bauer kehrt in seine Wohnung zurück und es folgt der nächste Rückblick: August 1996. Irgendetwas stimmt nicht. Seine Frau liegt zurückgezogen in einer Hängematte. Ihr Augen stumpf und abweisend. Dann ertönt erneut ein gellender Mädchenschrei.

Ein drohendes Damoklesschwert schwebt trügerische Stille über der Szenerie. Die Wahrheit liegt im unausgesprochenen Schrecken, der sich in Bauers geweiteten Augen widerspiegelt. Das scheinbare Idyll seiner Vergangenheit wird immer wieder durch die Mädchenschreie zerschnitten. Schnell wird klar, dass Bauer in dem kleinen Mädchen aus der Nachbarswohnung das verblasste Bild seiner Tochter Lara sieht und die immer wiederkehrenden Schreie schicksalshafte Vorboten sind, die erahnen lassen, dass mit Bauers Familie etwas Schlimmes geschehen ist. Unausgesprochene Räume senken sich zwischen den Handlungsstrom. Vieles bleibt offen, lässt nur vermuten und wirkt dadurch nur umso erschütternder. Vera Heldmann und ihrem Team hat mit August 96‘ nicht nur einen tiefgehenden Psychothriller, sondern auch einen neuen Dialog um das Krankheitsbild Depression geschaffen, der das Leben der Angehörigen beleuchtet und auch Sprachlosigkeit zulässt.

Das Spiel mit dem geistigen Zwielicht beherrscht auch der Kurzfilm „Vomia“, der einen weiteren stilistischen Gedankenstoß für die Darstellung psychischen Leidens zeigt. Mia rückt Lisa auf die Pelle, lenkt sie vom Lernen ab und engt sie ein. Kommt Lisa nach Hause, hängt Mia bereits mit einem großen Eimer Jogurt auf der Couch. Doch dann zeigt sich, dass es sich bei Lisa und Mia nicht um zwei Freundinnen handelt, sondern Mia Lisas Alter Ego ist. Wenn Lisa mit „Vo-Mia“ streitet, kämpft sie in Wahrheit gegen ihre Krankheit Bulimie an, die sie immer wieder in gefährliche Verhaltensmuster zurückzuziehen droht. Denn die Krankheit ist wie ein ungebetener Gast, impulsiv und mit der Tendenz zum Exzess. Mia symbolisiert Lisas Zorn und ihre Angst vor der Einsamkeit. Obschon es Lisa schließlich gelingt, mit Hilfe einer Therapie die Krankheit auszusperren, bleibt Mia präsent. Hinter einer gläsernen Scheibe lächelt sie Lisa aus der Ferne zu, als wolle sie sagen „hüte dich, denn wenn du nicht aufpasst, gewinne ich meine Macht zurück“.

Die 1990-er Jahre, vermutlich der locus amabilis der Filmschaffenden, spielen nicht von ungefähr in den leiseren Tönen der Filmdarbietungen eine wichtige Rolle. Für sie gehen die 1990-er Jahre gerade genug zurück, um in eine ferne, nicht greifbare Welt zu tauchen. Die 1990-er Jahre werden zu jenem unterkühlten Unterbewusstsein, das die Aushubstelle für Ängste, Freude und eine im Unterbewusstsein verschüttet gegangene Liebe bildet. Damit zeichnen die Nachwuchskünstler ein spannendes Psychogramm ihrer Generation und machen gespannt auf mehr. Der Abend endete mit tobenden Applaus, der nicht verleugnen ließ: Die Mediennacht war auch in diesem Jahr wieder ein voller Erfolg.