Mein erstes Mal roter Teppich
Ein Besuch des Filmfests München 2017
— Eine Kritik von Mirko Hanel —
Ich glaube fest daran, dass jeder Eventbesuch mit der Vorbereitung steht und fällt. Also haben wir Karten vorreserviert und direkt online gekauft. Eine Filmliste wurde erstellt. Meine Mitreisenden und ich klärten Unterkünfte und nahmen einen kleinen Roadtrip in Angriff: Von Bayreuth nach München. Wir hatten Cracker dabei, hatten unsere Schlafsachen so klein gehalten, dass sie in Rücksäcke passen. Zwar war ich zuvor einmal selbst zu Gast bei den Grenzland Filmtagen in Selb, aber das war aber nur kurz. Ich war mir sicher: München würde groß werden. Das Filmfest würde groß werden. Ankunft beim Garsteig. Davor der ominöse rote Teppich – und wir mittendrin! Ich war bereits aufgeregt. Unser erster Stopp war direkt das Box-Office am Garsteig. Zwar hatten wir unsere Tickets bereits online gekauft, jedoch mussten wir sie noch abholen. Es gab viele Orte, an die man sich wenden konnte und wir fanden keine Schlange vor, entgegen der Aufrufe auf der Homepage, unbedingt viel Zeit mitzubringen. So war es auch verziehen, dass die Transaktion der Kinokarten nicht komplett digital abgehandelt wurde. Im Nachhinein gefällt mir meine Kinokarte des Filmfests auch als Andenken sehr gut. Die Dame am Empfang war freundlich und gab uns sogleich ein kostenloses umfangreiches Programm mit. Unsere erste Vorstellung war noch am selben Abend – David Lynch: The Art Life.
In der Wartepause bis zum ersten Film besuchten wir ein kleines Kaffee, ganz in der Nähe, in einer sonnigen Allee. Zwischen Familien und freundlichen Gesprächen auf der Straße konnten wir nach der langen Fahrt ein wenig Ruhe finden. Dann zurück zum Eventort Garsteig – dort hat der Einlass zu den Sälen irgendwie seine ganz eigene Note: alle sind in Anzügen, Kleidern, mindestens Hemden. Nur meine Begleitungen und ich waren etwas underdressed. Das Kino, in dem die Aufführung stattfand, der Karl-Orff-Saal, wurde dann endlich geöffnet und wir durften in dem riesigen Saal Platz nehmen. Ein Glück brachten wir etwas mehr Zeit mit und standen bereits eine halbe Stunde früher an, denn einige Zuschauer weit außen links, hatten im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten und konnten die Leinwand kaum sehen. Leider bringt hier die freie Platzwahl, die übrigens jede meiner besuchten Vorstelllungen betrifft, auch diese Schattenseiten mit sich. Der Saal schien eher für Tanzveranstaltungen und ähnliches gedacht.
David Lynch: The Art Life ist ein Film über den berühmten Filmemacher, dem Kopf hinter Twin Peaks, Mulholland Drive und Blue Velvet, wie er sein früheres Leben reflektiert und wie er seine Jugend einschätzt. Irgendwie erinnert die Dokumentation dabei ein wenig an einen Imagefilm. Immer wieder sehen wir den bereits alten Mann dabei, wie er Kunstwerke fertigt, während seine, zugegeben angenehme tiefe Stimme, uns über die Erfahrungen seiner Jugend berichtet. Er wollte schon seit seiner Kindheit malen. David Lynch liebt das Basteln, er werkelt, aber vor allem inszeniert er sich als Maler. Die Selbstdarstellung als Künstler liegt ihm gut, man fühlt sich in seinen Bann gezogen, versucht zwischen den Zeilen zu lesen, aber letztendlich fehlt ein wenig der Tiefgang. Zwar werden immer wieder Gemälde und Bilder von Lynch zwischenmontiert, die auf die entsprechenden Phasen seines Schaffens passen, jedoch bleibt ein Geschmack von Normalo-Amerika zurück. Der Vater war streng, aber fair, dafür war seine Mutter fürsorglich, wenn auch ein bisschen kühl in ihrer Art. Die Freunde waren früher die falschen, dann kam die Kunst als Befreiung und so weiter. Ich kann das kaum schreiben, ohne mich selbst zu langweilen. Gerade hier muss ich die Dokumentation aber loben. Sie ist oft erfrischend kurzweilig, arbeitet das eigentlich etwas durchschnittliche Künstlerleben des Lebemanns auf. Sie zeigt auch die Gegenwart: Lynch nach seinen gescheiterten Ehen, als erfolgreicher Film- und Serienstar. Mit knapp 70 Jahren, spielt Lynch mit seiner sehr jungen Tochter im Atelier und wirkt dabei greifbar und menschlich. Letztendlich trägt man den Film mit sich aus dem Saal, denn die Authentizität von Herrn Lynch macht ihn zu einer lebendigen Figur. Einige Bilder werde ich nie vergessen: Wie etwa den täuschend echten Kadaver eines Vogels, gebastelt mit Formschaum, Federn, Leim und Farbe, den er auf einer Leinwand platziert. Wer darin Kunst findet, dem kann ich auch diese Dokumentation empfehlen.
Der nächste Tag brachte uns weg vom roten Teppich, zu einem anderen Austragungsort des Filmfests: Zur Hochschule für Fernsehen und Film München. Nachdem wir vergebens für eine gute Weile dem Betonwirrwarr gefolgt waren, gaben wir einfach auf: die ausgeschilderte Garderobe musste vom Vortrag noch hängengeblieben sein. Von dem riesigen, pompösen Karl-Orff-Saal am Garsteig, waren wir nun an eine ganz andere Art des Filmfests geraten. Erst war ich etwas enttäuscht, denn ich hatte mich an den Glamour schon ein wenig gewöhnt. Ich wusste aber nicht, dass ich mich noch am selben Tag in einen Film verlieben würde.
Mr. Roosevelt hatte seine internationale Premiere auf dem Filmfest München 2017. Im Kino 2 sitzt man auf blauen Stühlen, deren Armlehnen zu viel zu hoch sind. Man hat weniger Platz, aber alle sehen die Leinwand gut. Der Raum und ich wir haben etwas gemeinsam: wir sind für Filmvorstellungen gemacht. Bereits die Ansage des Films holte die Regisseurin, Drehbuchschreiberin und Hauptdarstellerin Noël Wells auf die Bühne. Dann erloschen die Lichter im Saal und der Film begann. Der, zugegeben sehr amerikanische Film, agiert ungefähr auf dem humoristischen Level von New Girl und das meine ich als großes Kompliment. Mr. Roosevelt ist ein amerikanischer Comedy-Film, der nicht nur auf der Ebene der Dialoge funktioniert, wie man es von dem Einheitsbrei gewohnt ist. Zwischen Slapstick-Humor sehen wir bizarre, urkomische Improvisationseinlagen der Hauptdarstellerin. Das alles ist relativ gekonnt verpackt in eine Dreiecksbeziehung zwischen ihr (als Emily Martin), ihrem Ex-Freund und seiner neuen. Mr. Roosevelt ist eigentlich nur ihr verstorbener Kater, der sie in ihre alte Stadt bringt, in das Haus ihres Ex. Schön, dass ihre Rebellion und ihr Coming-of-Age sie in eine erwachsene, mündige und trotzdem komplett eigene Frauenrolle manövriert. Sehr sehenswert, durchweg unterhaltsam und ein wenig rau. Wenn Emily ausrastet und ihre Freundin Beth zum Wasserhahn geht, um ein Glas Wasser zu befüllen, findet sich der Humor in der vorher bereits gezeigten, bizarren Situation. Denn die Zuschauer*innen wissen, dass das Wasser in Emilies Gesicht landen wird. Selten habe ich so gelacht, gerade weil das Auslassen eines Dialogs hier funktioniert. Drehbuch, Schauspiel, Regie … Noël Wells hat hervorragende Arbeit geleistet. Umso schöner, dass sie in der Nachbesprechung vor Ort war und mit dem Publikum spricht. Da konnte ich auch endlich meine dringende filmwissenschaftliche Frage stellen, wie lange man braucht um eine Badewanne komplett mit Spaghetti zu füllen. Es dauert nicht lange. Man kocht die Spaghetti nämlich vor und macht sie in Müllsäcke, aber man muss auch aufpassen, dass sie nicht reißen. Noël Wells gibt sich als lustige, kompetente Frau. Habe ich erwähnt, dass ich mich verliebt habe? Mr. Roosevelt ist bedingungslos zu empfehlen. Großes Kino, in einem kleinen Saal.
Dann direkt im Anschluss zu Queen of Spades von Pavel Lungin. Der russische Film entpuppte sich als Crossover zwischen Melodrama, Oper und Opernproduktionsfilm. Wie passend, dass der opulente Saal selbst an einen Opernsaal erinnerte und mit Zierde und barocken Akzenten aufwartete. Die Münchner Freiheit überzeugte mich hier enorm, das Kino war perfekt für das folgende Spektakel. Queen of Spades begleitet einen jungen Mann dabei, wie er zum Opernstar werden will und dabei immer mehr mit der Figur der Oper selbst verschmilzt. Das etwas langegezogene Melodrama dreht sich ebenfalls um eine Dreieckskonstellation. Lungin konzentriert sich hier auf die heterosexuellen Romanzen, verbunden mit einer Prise Thriller. Im Mittelpunkt des Ganzen: das tragische Scheitern des Protagonisten, der sich parallel zum Verfall des Protagonisten der Oper entwickelt. Hätte Pavel Lungin doch nur eine Oper gemacht. Denn die Bühnenbilder und Arien schafft er perfekt in Szene zu setzen. Leider lässt genau diese Schönheit der Bilder das filmische Secco der Schauspieler noch trockener wirken. Queen of Spades ist ein bisschen zu dick aufgetragen im Schauspiel, alle leiden, die Mafia hat ihre Finger im Spiel. Was eine verspielte Reise in die Opernwelt und ihre dramatisierte Produktion hätte sein können, wurde zu einem selbstreferenziellen Durcheinander mit schöner Opernmusik. Mehr Zündstoff bot die Moderation des Films. Die Ankündigung des mir bis dahin unbekannten Regisseurs wurde in Englisch gehalten. Die Worte des verkrampften, verunsicherten Mannes neben Pavel Lungin waren katastrophal nichtssagend. Man müsse Pavel Lungin nicht vorstellen, alle würden ihn ohnehin schon kennen. Es ist ja nicht so, als wäre es sein einziger Job gewesen, Pavel Lungin vorzustellen. Nein, in der Tat hatte er auch den Job gehabt, das an den Film anschließende Gespräch mit dem Regisseur zu moderieren. Da war es für mich umso schlimmer, dass das Publikum immer wieder ins Russische abdriftete, Pavel Lungin irgendwann auch, statt in Englisch, nur noch auf Russisch antwortete. Da stand er hilflos daneben, der verunsicherte Moderator und verstand nichts. Schade, dass ich nicht an den Lachern teilhaben konnte, die Fragen und Antworten nicht übersetzt wurden, wie zuvor versprochen. Gerne hätte ich mit dem Regisseur gesprochen, oder zumindest ein wenig teilgenommen. Organisatorisch eine totale Katastrophe.
Am nächsten Tag dann ein deutscher Film: Zwei im falschen Film von Laura Lackmann. Zurück also in der Hochschule für Fernsehen und Film, zurück im Betonbunker vor den kleinen Sälen. Diesmal suchten wir die Garderobe gar nicht erst, nahmen einfach alles mit rein. Da wird es schnell etwas eng in den blauen Sitzen, aber man muss sich ja nicht viel bewegen beim Zuschauen. Eine Nachbesprechung sollte es keine geben, die Ankündigung des Films zitierte nur einmal die Drehbuchautorin: sie habe alle ihre Ex-Freunde in der männlichen Hauptrolle integriert. Zwei im falschen Film arbeitet anfänglich viel auf der fast britischen Ebene des Fremdschämens. Der Film zeigt ein Paar in seinen Dreißigern, wie sie erneut zueinander finden, abseits von der klassischen Liebesfilm-Erzählung. Er nennt sie Heinz. Sie nennt ihn Hans. Die Beiden spielen zusammen Konsole auf der Couch. Sie sprechen offen über Analverkehr und sie verkleiden sich gerne. Beispielsweise erscheint Heinz, also eigentlich Laura, bei ihrem romantischen Date als die „Bride“ von Kill Bill. Ihre Liebesgeschichte auf Umwegen hinterlässt ein wenig einen herben Nachgeschmack: warum sind die Beiden denn nun zusammengeblieben? Ihr etwas fades Leben und ihr Umgang damit drängt das Paar öfter in überzeichnete Nebenhandlungen mit anderen potenziellen Liebhabern. Leider schafft es Zwei im falschen Film irgendwie nicht den männlichen Part dabei in ein gutes Licht zu rücken. Eigentlich versteht man nicht, warum Hans ständig so versteift und gefühlskalt bleibt und vor allem nicht warum Heinz zu ihm zurückfindet. Dann bleiben sie am Ende wegen der Umständen zusammen. Das Ende des Films ist ein Verweis auf den Anfang des Films. Die kitschige Liebesszene am Strand sahen die Beiden bereits am Anfang selbst im Kino an. Diese Freude darüber, dass sie sich wiedergefunden haben, weichgezeichnet vor den Meereswellen, kann nicht über den herben Nachgeschmack hinwegtäuschen. Vielleicht liegt es an der unkonventionellen Erzählart des Films, dass er es nicht schafft mich von den Beiden zu überzeugen. Die Abgrenzung von anderen Pärchen im Film, denen es viel schlechter geht und von denen jedes ein wenig kämpft um glücklich zu sein, mag schon in der Erzählung Sinn machen. Man gönnt es Heinz und Hans am Ende auch. Ihre Liebe wirkt nach dem Kinobesuch aber ein bisschen wie Tiefkühlpizza, hatten sie eben gerade da. Wie man sich zu diesen Emotionen und Bildern positioniert, zu dem nihilistischen Bild von funktionierenden aber unperfekten Beziehungen, das bleibt dem/der Zuschauer*in selbst überlassen.
Vermutlich ist der Eindruck des Filmfests für jeden wirklich radikal unterschiedlich. Da kommt es darauf an, welche Filmreihen man besucht – Indies, internationale oder deutsche Newcomer – man kann nicht alles sehen. Man kann sicherlich auch nicht alles besuchen, nicht an jedem Fest teilnehmen und ich glaube mein Eindruck kann das Filmfest nicht als Ganzes bewerten. Aber gerade dieser Aspekt muss betont werden: Das Filmfest ist das, was man daraus macht. Ob man an den Nachgesprächen teilnimmt, in welche Filme man geht, ob man danach noch Feiern geht – alles das ist das Filmfest München. Das Niveau der Filme und Events blieb über die 3 Tage meines Aufenthalts enorm hoch. Weiterhin ist München zu diesem Zeitpunkt ein Pilgerort für Filmliebhaber. So habe ich mich dort auch mit einer sehr guten Freundin aus einer ganz anderen Ecke Deutschlands verabreden können. Aber genau darin liegt die Essenz des Filmfests, es ist mehr als die Summe seiner Teile. Ich habe München immer wieder neu entdeckt, war in U-Bahn, Tram und Bus unterwegs. Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass das Filmfest unheimlich viel zu bieten hat. Allein die Abschlussgespräche mit den beteiligten Filmemachern, so verschieden sie auch waren, haben mich jedes Mal mit einem Ehrfurchtsgefühl erfüllt. Das betont das Handwerk, man überbrückt gedanklich ein wenig die Distanz zwischen dem Produkt und sich selbst als Rezipient*in. Die unterschiedlichen Locations und die lebendige Stadt bieten einfach einen hervorragenden Hintergrund für die verschiedenen neuen Filme. Dabei ist es von Vorteil, dass die Vorführung in der Innenstadt verteilt sind. Man kommt herum und lässt sich auch ein wenig von der Stadt bezirzen. Nicht zuletzt sei gesagt, dass sich diese jede Nacht selbst feiert. Neben Filmen wird man auch eingeladen in heimische Biergärten, kleine Kaffees unter grünen Bäumen und neonfarbene, pulsierende Diskos den ein oder anderen Besuch abzustatten. Ich glaube ich habe Blut geleckt. Eigentlich ist es jetzt schon beschlossene Sache. Ich komme nächstes Jahr wieder. Mit mehr Freunden. Mit mehr Zeit. Mehr Filmen. Mehr München.