Eine Frage der Identität – Vom Filmfest München 2017
— Eine Kritik von Lucia Distler —
„Youth on the Move“ ist das diesjährige Motto der Münchner Filmfestspiele. Die Stadt öffnet ihre Tore und Kinos sowohl international gefeierten Filmemachern, als auch weniger bekannten Filmkünstlern aus aller Welt. Viele haben ihr Talent längst entdeckt und warten nur darauf, es in die Welt hinaustragen zu dürfen. Neben bekannten Größen wie Bryan Cranston, dem diesjährigen CineMerit-Preisträger und Sofia Coppola, deren gesamtes Werk in einer Retrospektive zu bewundern ist, werden Filmjuwelen unter anderem aus Frankreich, Russland, China, dem Iran und Lateinamerika präsentiert. Besonders für Filmliebhaber, denen der normale Kinoalltag oft zu grau ist, ist die Woche vom 22. Juni bis zum 1. Juli ein Fest für die Sinne. Die ideale Gelegenheit, Werke zu entdecken, deren Geschichten man andernfalls nie erfahren hätte. Im Grunde genommen gibt es so viele Geschichten, wie es Filme gibt, aber bestimmte Themen finden sich in mehreren Erzählungen wieder. Die Identitätssuche ist solch ein Thema, eines, das auf dem Filmfest viele Regisseure zur Sprache gebracht haben. Die im Folgenden betrachteten Filme setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der Suche nach der eigenen Persönlichkeit auseinander.
Mr. Roosevelt oder die ernste Komödiantin
Noël Wells ist nicht nur die Hauptdarstellerin in der amerikanischen Komödie Mr. Roosevelt, sondern auch die Regisseurin und Drehbuchautorin. Ihrer eigenen Aussage nach, ist ihr Regiedebüt einer Figur gewidmet, die sie schon länger im Kopf hatte und die ihr selbst gar nicht unähnlich ist. Schließlich soll man das erzählen, was man kennt, um authentisch zu sein. Noël Wells war selbst vor Ort, wurde zu Beginn dem Publikum vorgestellt und blieb am Ende noch für ein paar Fragen, auch wenn sie leider nicht viel Zeit hatte. Aufführungsort war das Kino 2 der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) ein modernes Setting, das gut zu jungen und unkonventionellen Filmen passt. Emily (Noël Wells), eine mäßig erfolgreiche YouTube-Komödiantin lies Kerl, Kater und Haus in Austin (Texas) zurück, um in Kalifornien Karriere zu machen. Das läuft ohnehin mehr schlecht als recht, als sie von ihrem Ex-Freund Eric (Nick Thune) die Nachricht erhält, dass ihr Kater, Mr. Roosevelt, schwer krank ist. Also kratzt sie ihr letztes Geld zusammen, um zurück nach Austin zu fliegen und ihr geliebtes Haustier noch einmal zu sehen. Vor Ort muss sie allerdings feststellen, dass nichts mehr so ist, wie sie es verlassen hat. Eric hat mittlerweile eine neue Freundin, die auch schon bei ihm eingezogen ist und das Haus, in dem Emily und Eric früher zusammengewohnt haben, hat ihrem Geschmack nach viel zu viel „Celeste-Flair“ abbekommen. Celeste (Britt Lower), das ist der Name der hübschen, eigenständigen und warmherzigen Frau, die zu Emilys Unglauben und Verdruss Erics neue Partnerin ist. Egal wie sehr Emily sich bemüht, sie findet einfach keinen Riss in Celestes perfekter Fassade, dabei wäre ihr nichts lieber, als der anderen Frau ihre eigene Eifersucht anzuhängen. Emily sieht sich also damit konfrontiert, dass ihr Ex-Freund wunderbar ohne sie klarkommt, dessen neue Freundin sich irritierenderweise herzlich um sie bemüht und sie sich nicht mal mehr den Rückflug nach Kalifornien leisten kann. Als Mr. Roosevelt stirbt, gerät die Lage außer Kontrolle. Zum einen ist da die aberwitzige Debatte um Mr. Roosevelts Bestattung, inklusive Urne und Beerdigungsbrunch. Zum anderen findet sich Emily häufig in Situationen wieder, die sie so hysterisch machen, das Kellnerin Jen (Daniella Pineda) gerne dazu übergeht, ihr Wasser ins Gesicht zu schütten. Da hilft es auch nicht, dass sie eine lokale Berühmtheit ist, wenn sie ihr beliebtestes Video, indem sie in einer Badewanne voll Spaghetti mit Tomatensauce sitzt, selbst als dumm bezeichnet. Bei ihren Versuchen, die Ursache ihrer misslichen Lage anderen in die Schuhe zu schieben, muss die zu ernst geratene Komödiantin erkennen, dass sie sich das Durcheinander selbst zuzuschreiben hat. Aber manchmal muss man erst mitten durch das Chaos hindurch, um die Ordnung auf der anderen Seite wiederzufinden. Emily ist durchaus eine sympathische Figur, eine Frau, die noch ihren kindlichen Träumen nachhängt und auf dem Weg zu einer erwachseneren Version ihrer selbst feststellen muss, dass andere mit der Entwicklung schneller waren als sie. Man möchte nicht unbedingt in ihrer Haut stecken und findet sich doch zu leicht in ihr wieder, zumindest in bestimmten Momenten. Wer kennt schließlich nicht den Frust, der aufkommt, wenn einem andere das, was man selbst nicht auf die Reihe bekommt, scheinbar mühelos vorführen? Die Unsicherheit und die Zweifel, die einen überfallen können, wenn andere mit einer Leichtigkeit durchs Leben zu gehen scheinen, die einem selbst verwehrt bleibt? Ist wirklich jemand völlig über diese Zweifel erhaben? Es gibt natürlich Ausnahmen, aber auch Celeste, die sich ihr Lächeln lange nicht nehmen lässt, sitzt gegen Ende heulend am Tisch und stopft trotz Glutenintoleranz jede Menge Weißbrot in sich hinein. Emily versucht zwanghaft komisch zu sein, obwohl man ihr ansieht, dass sie am liebsten weinen würde. Sie muss erst über ihre eigenen Schatten springen, um herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. Noël Wells hat mit wenig Geld einen unterhaltsamen Film geschaffen, der die kleinen Dinge des Alltags und die Unsicherheiten und Peinlichkeiten, die man lieber verschweigen möchte, karikiert. Manches wirkt schrill, skurril, auf die Spitze getrieben oder übertrieben. Aber auch wenn nicht jeder Gag funktioniert, zeigen diese 90 Minuten vortrefflich, wie man aus einer Mücke einen Elefanten machen kann, um die eigentlichen Probleme zu vergessen.
Queen of Spades – vom Wahn ein anderer zu werden
Während Emily in Mr.Roosevelt auf höchst komische Weise versucht zu sich selbst zu finden, bemüht sich Andrey (Ivan Yankowsky) darum, sich eine neue Identität zuzulegen. Er möchte Hermann sein, die Figur aus Tschaikowskys Oper Pique Dame. Der neue Thriller von Regisseur Pawel Semjonowitsch Lungin, Queen of Spades, ist ein modernes Remake derselben. Seit Andrey als Junge in einen vereisten See eingebrochen ist, kann er mit seiner Stimme Glas zum Bersten bringen. Aber das allein genügt zunächst nicht, um ihm die Rolle des Hermann in der neuen Inszenierung von Opern-Diva Sofia Mayer (Kseniya Rappoport) zu beschaffen. Sofia, sein Vorbild aus Kindertagen, ist zum ersten Mal seit Jahren wieder in ihrer Heimatstadt. Seiner Freundin und Sofias Nichte Lisa (Mariya Kurdenevich), wird dagegen sofort die gleichnamige Hauptrolle zugeteilt. Andrey wird zu seinem Ärger übergangen. Seine Beziehung mit Lisa zerbricht auf seinem Weg Hermann zu werden, als er sich, genau wie die Figur, am Glücksspiel versucht und sich darüber hinaus mit Sofia einlässt. Die gerissene Diva treibt unterdessen ihr eigenes Spiel. Zunehmend angetan von Andreys Stimme und seinem Ehrgeiz, findet sie einen Weg, ihm tatsächlich die gewünschte Rolle zu verschaffen. Sie verführt ihn mit Zurückweisung und Spott und der richtigen Portion Zuwendung. Alles an ihr scheint so undurchsichtig und messerscharf wie ihr Lächeln. Ihre Absichten kann man nur erahnen. Sofia provoziert ihre Nichte solange, bis Lisa zutiefst verletzt und verzweifelt ihren Schmerz aus sich heraussingt und damit endlich ihr volles Potential ausschöpft. Gleichzeitig bestärkt sie Andrey in seinem Größenwahn, hilft ihm hoch hinauf, nur um ihn fallen zu sehen. Andreys Ungeduld zu Geld und Ansehen zu kommen und seinem erbärmlichen Dasein zu entrinnen sowie seine Sehnsucht ihr zu gefallen sind schließlich sein Untergang. Er schlägt Sofias Warnung in den Wind und setzt alles auf eine Karte. Um an Geld zu kommen, lässt er sich mit der russischen Mafia ein. Wie sein Vorbild Hermann verliert er das dritte Spiel. Er kehrt auf die Bühne zurück und spielt die Rolle, mit der er eins geworden zu sein scheint. Sein letzter brillanter Auftritt kostet ihn seine Stimme und beinahe sein Leben. Ein lebensbedrohliches Ereignis hat seinen Gesang vollkommen gemacht, ein anderes seine Stimmbänder zerstört. Sein Überleben liegt nun in der Hand seiner Gläubiger, besser gesagt einer Partie russisch Roulette.
Dieses moderne Remake von Tschaikowskys vorletzter Oper, die wiederum auf einer Erzählung von Alexander Puschkin beruht, besticht vor allem durch die exzellente Gestaltung von Bühne und Kostümen und Sofias charismatischer Persönlichkeit. Die Inszenierung der Oper im Film hätte sicherlich auch alleinstehend im Theater funktioniert, wenn Lungin ein Bühnenstück hätte aufführen wollen. Auch die Stimmen sind hervorragend, leider konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob die Arien nachsynchronisiert wurden. In Kseniya Rappoports Lebenslauf ist keine klassische Gesangsausbildung aufgeführt, über die anderen Hauptdarsteller ist nicht viel bekannt. Nur hinsichtlich der Charaktertiefe schwächelt der Film an manchen Stellen. Andreys Motive für seine Handlungen werden nur bruchstückhaft klar, seine Obsession mit der Pique Dame zu spät erklärt und die Frage nach seiner Liebe zu Lisa, die ihn trotz allem zu retten versucht, bleibt völlig offen. Auch die schauspielerische Leistung von Ivan Yankowsky ist nicht immer überzeugend. Kseniya Rappoports Darbietung stellt aber auch gerne die Kollegen in den Schatten. Die Thematik und die Art und Weise wie der Film funktioniert, erinnern etwas an Black Swan mit Natalie Portman aus dem Jahr 2011. In dieser Geschichte geht ebenfalls die Hauptfigur durch ihren Versuch, sich eine Rolle anzueignen, zugrunde. Außerdem sind beide Werke an bekannte Bühneninszenierungen von Tschaikowsky angelehnt. Um der Theateratmosphäre des Films gerecht zu werden, wurde das Filmtheater am Sendlinger Tor als Aufführungsort ausgewählt. Es ist das älteste Großkino Münchens, das räumlich unverändert geblieben ist. Eröffnet wurde es 1913, ein Überbleibsel aus der Stummfilmära. Erbaut wurde es nach dem Vorbild eines Schauspielhauses, mit klassizistischen Säulen, einem ansteigenden Parkett, Rang und Galerie sowie roten, weichen Plüschsesseln mit Messingverzierungen. In einem Raum zu sitzen, dessen Ambiente sich atmosphärisch mit dem Film vereint, bringt den Zuschauern das Gefühl näher, wirklich in die Geschichte eintauchen zu können. Regisseur Lungin war ebenfalls vor Ort, wurde zu Beginn von einem Sprecher vorgestellt und blieb nach der Vorstellung zur Fragerunde. Leider wechselten die Anwesenden ziemlich schnell ins Russische, mit wenigen englischen Übersetzungen, was für alle übrigen zu ernsten Verständnisschwierigkeiten führte. Eine Frage ist dennoch besonders im Gedächtnis geblieben: Kritisiert der Film die aktuelle Situation in Russland? Der Regisseur fand eine sehr diplomatische Antwort darauf: Filme sollten immer in gewisser Weise kritisch sein. Es bleibt zunächst der Eindruck, dass das Drama der Geschichte und Andreys persönliches Schicksal schwerer wiegen als eine mögliche Kritik, auch wenn die russische Mafia ihren Auftritt bekommt.
Die Suche nach dem Ich
Beide Hauptcharaktere stecken auf unterschiedliche Weise in einer Identitätskrise: Emily möchte sich selbst mit ihren eigenen Ideen verwirklichen, versinkt aber in Selbstmitleid, weil die Realität sich drastisch von ihrer Vorstellung unterscheidet. Andrey dagegen flieht vor sich selbst. Er setzt alles aufs Spiel, um einem Ideal zu entsprechen, das er sogar übertreffen muss, wenn er nicht dasselbe traurige Schicksal erleiden will. Er überschätzt sich maßlos und scheitert. Der Zuschauer bekommt keine Vorstellung davon, wie sich seine Lage zum Ende des Films verbessern könnte. Emily steht nach ihrer turbulenten Hetzjagd befreit vor einem Neuanfang. Sie startet vom Nullpunkt wieder hinaus in die Welt, in einer reiferen Version ihrer selbst. Die eben besprochenen Filme sind nur zwei aus über 100 Werken, die dieses Jahr auf dem Filmfest präsentiert wurden. Sie zeigen in welch unterschiedlichen Genres man Vergleichspunkte finden kann. Die Identität setzt sich aus verschiedenen Versionen eines Charakters zusammen und manchmal spielen nicht nur die Schauspieler eine Rolle, sondern auch die Figuren, die sie verkörpern. Sie spielen sozusagen einen Charakter im Charakter, der vielleicht auch eine Facette ihrer eigenen Persönlichkeit ist. Eine Facette, die sie herausarbeiten, während der Rest für den Moment verblasst.