Über das noble Gefühl der Angst und die Bedeutungslosigkeit der Angst
— Eine Kritik von Daniel Fischer —
Es bedarf keiner psychoanalytischen oder hellseherischen Fähigkeit um zu erkennen, dass François Truffaut ein begeisterter Verehrer Alfred Hitchcocks war. Trotz dieser Begeisterung ist seine Kritik zu dem Film The Birds aus dem Jahre 1963 alles andere als eine reine Huldigung an den aus England stammenden Filmemacher, ganz im Gegenteil. Truffaut geht in seiner Kritik durchaus hart mit Hitchcocks Machwerk ins Gericht. So lässt er schon relativ früh erkennen, dass der Film „bestimmt nicht vollkommen[1]“ ist. Er kritisiert in diesen Zusammenhang vor allem die Besetzung des Films. Rod Taylor und Tippi Hendren geben seines Erachtens nach kein sonderlich gutes Paar ab, weshalb der romantische Subplot des Films leide.
Ebenso deutlich stellt Truffaut allerdings auch die Stärke beziehungsweise die Besonderheit des Films heraus. Er gibt ganz offen zu, dass er davon überzeugt ist, dass das Kino erfunden wurde, damit Filme dieser Art gedreht würden. Er geht deshalb auch mit vielen anderen Kritikern hart ins Gericht die, seines Erachtens nach, das „eigentliche Prinzip[2]“ des Films nicht verstanden oder bewundert haben. Nämlich die Tatsache, dass normale Vögel, normale Menschen in einer normalen Umgebung angreifen. Auch die daraus entstandenen, aus heutiger Sicht unverständlich, reißerischen Filmkritiken kann er nicht nachvollziehen und klagt diese an.
Bereits hier lässt sich gut erkennen, dass sich die Kritik nicht ausschließlich auf den Film, sondern auch auf die gesamte Filmindustrie der damaligen Zeit bezieht. Er zitiert diesbezüglich eine Stelle aus dem Film 8 ½ von Federico Fellini. Dort versucht jemand dem Regisseur Guido Anselmi, gespielt von Marcello Mastroianni, „ein Drehbuch gegen die Atomrüstung einzureden[3]“. Für Truffaut sieht dies als ein gutes Beispiel für die Tatsache, „daß [sic!] das Kino der guten Absichten die schlimmste aller Fallen ist[4]“. Seines Erachtens nach gibt es demnach nichts schlimmeres oder belangloseres für einen wahren Filmautor, als einen Film wie The bridge on the river Kwai machen zu müssen. Dies sei nur etwas für „Trottel[5]“ oder „Oscar-Maschinen[6]“.
Durch diese sehr direkte Ausdrucksweise macht er deutlich, wie wenig Aussagekraft die Academy Awards seiner Meinung nach doch eigentlich haben. Ein Regisseur wie Hitchcock, so Truffaut weiter, habe „nie einen Oscar bekommen“ obwohl „dessen Filme bei einem Neustart nach zwanzig Jahren genausoviel [sic!] Geld einspielen wie ein neuer Film[7]“. Der Erfolg oder die Beliebtheit eines Films sagen also wenig aus über die Anerkennung die einem Film oder Regisseur zu Teil werden.Eine Tatsache die sich auch heute noch eins zu eins auf die Medienwelt übertragen lässt.
Denn bis heute ist es doch eher selten, dass sich ein wahrer Kassenschlager in den bedeutenden Kategorien der Academy Awards durchsetzt. Wenngleich sich in seinen Ausführungen auch der Wunsch nach einem Oscar für einen seiner Lieblingsregisseure deutlich erkennen lässt, so ist seine Kritik an der Auswahl der Preisträger doch sehr clever innerhalb des Textes versteckt. Er benutzt sie mehr oder minder nur als Einleitung für den eigentlichen Kern seiner Niederschrift, der Kritik am Film. Durch seinen sehr markanten und polarisierenden Schreibstil geht diese allerdings nicht als schmückendes Beiwerk unter, sondern bleibt nachhaltig im Gedächtnis.
Seine Wortwahl in diesem Abschnitt lässt allerdings auch noch einen anderen Kritikpunkt an der damaligen Medienlandschaft erkennen. So verwendet er statt des Wortes Regisseur oder Filmemacher den Begriff des „wirklichen Filmautors[8]“. Er verdeutlicht damit seinen Blick auf das Format Film beziehungsweise das Format Kino. Er spricht in diesem Zusammenhang, mit Bezug auf The Birds, unter anderem von einem Künstlertraum. Es bedarf viel Kunst und guter Technik, um aus einer einfachen Ausgangssituation, wie wir sie in Hitchcocks Film vorfinden, etwas Besonderes beziehungsweise etwas Bedeutsames zu schaffen.
Abschließend verleiht François Truffaut seinem Text über The Birds noch einen Hauch von essayistischem Schreiben, indem er eine eigene These konkret in den Text einflicht. Dabei handelt es sich konkret um die Behauptung, dass die Angst und das Empfinden derselbigen ein „nobles[9]“ Unterfangen sein kann. Dass es nobel ist, sich oder anderen einzugestehen, dass man Angst empfunden hat und dies mit Vergnügen getan hat. Ein Vergnügen dass, so Truffaut schließend, eines Tages irgendwann nur noch Kinder empfinden werden.
Es bleibt nun natürlich noch die Frage, wie Hitchcocks The Birds aus heutiger Sicht zu bewerten ist? Kann er auch noch mehr als sechzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dem Zuschauer das Blut in den Adern gefrieren lassen?
Einige Szenen des Films mögen heutzutage etwas merkwürdig, ja schon fast ungewollt komisch wirken. Dazu zählen vor allem die, vor einer Leinwand aufgezeichneten, Autofahrszenen welche teilweise herrlich absurd anmuten. Ebenso haben viele der Schockmomente, beispielsweise als Mitch Brenners Mutter eine Leiche mit herausgepickten Augen findet, den Reiz oder das Überraschungsmoment, welche sie in vergangenen Zeiten höchstwahrscheinlich besaßen, inzwischen leider zur Gänze verloren. Nachdem der geneigte Cineast durch Filme wie The Texas Chainsaw Massacre oder Saw mehr oder minder abgehärtet worden ist, können die gezeigten Schockerlebnisse kaum noch für Entsetzen sorgen.
Trotzdem hat The Birds, vor allem dem jüngeren Publikum, auch heutzutage noch einiges zu bieten. Was den Film aus heutiger Sicht deshalb sehr sehenswert macht, ist das bedrückende Gefühl der Spannung, genauer gesagt das Gefühl der Anspannung, welches mehr und mehr aufgebaut wird.
Zu Beginn des Films könnte man Hitchcocks Machwerk auch für eine alltägliche Liebeskomödie halten. Nur gelegentlich werden Akzente gesetzt, die einem das ungute Gefühl einjagen, dass an diesem Ort etwas nicht so recht stimmen mag. Ungefähr ab der Mitte des Films kippt die Stimmung nahezu komplett und steigt bis zum Ende hin immer weiter an. Diese Spannung entsteht allerdings nicht durch jumpscares oder besonders brutale Szenen sondern eher durch bewusst erzeugte Ungewissheit über den nächsten Vogelangriff. Hitchcock spielt mit den Erwartungen der Zuschauer und strapaziert deren Nerven fast bis zum Zerreißen. Dies geschieht vor allem in den ruhigen Szenen des Films. Szenen, die gänzlich ohne Musik auskommen und sich die daraus entstehende Stille oder die vorhandenen Umgebungsgeräusche, wie beispielsweise ein Chor singender Schulkinder, zu Nutzen macht. Man wartet, ähnlich gespannt wie die Protagonisten des Films, auf die grotesk anmutenden Vogelgeräusche und den damit einhergehenden Angriff des gefiederten Feindes. Besonders in der abschließenden Sequenz des Films zeigt sich die Effektivität des spärlichen Musikeinsatzes. Mitch Brenner muss sich aus dem Haus begeben, um das Fluchtauto vorbereiten zu können. Dazu muss er, und später auch seine Begleiter, durch ein Meer ruhig dasitzender Vögel schreiten.
Die Präsenz der potentiellen Angreifer, sowie die absolute Stille – um die vor allem der Hauptcharakter bemüht ist – springt auf den Zuschauer über. Man traut sich kaum zum Popcorn zu greifen, weil dies wahrscheinlich zu viel Lärm machen würde.
Ein weiterer Aspekt der diese Anspannung zusätzlich anfacht ist die Tatsache, dass weder die Protagonisten der Geschichte, noch der Zuschauer erfährt, was die Vögel im Schilde führen. Es lässt sich kein klares Muster erkennen, keine Ursache für die plötzliche Aggressivität der Tiere ausmachen. Dadurch scheinen die Angriffe vollkommen wahllos, was die Stimmung noch mehr verdichtet. Insofern könnte man fast sagen, dass Hitchcocks Film deutlich besser funktioniert als so mancher Zombie-Film der heutzutage über die Leinwände und Fernsehschirme der Filmgemeinde flimmert. Zombies folgen meist festen Regeln. Sie werden von lauten Geräuschen angezogen, sind ständig auf der Suche nach frischem Gehirn und lassen sich durch einen gezielten Kopfschuss oder ähnliches ein für alle Mal außer Gefecht setzten. All diese Regeln treffen für die Vögel nicht zu. Demnach sind ihre Schritte weder berechenbar noch in irgendeiner Art und Weise vernünftig abzuwehren.
Doch neben den bereits erwähnten, ungewollt komisch anmutenden Szenen, kann und sollte mit etwas mehr als sechzig Jahren Abstand wahrscheinlich noch ein anderer Aspekt durchaus kritisch beleuchtet werden. Denn aus heutiger Sicht könnte, besonders den weiblichen Zuschauern, die Ausgestaltung der einzelnen Charaktere etwas sauer aufstoßen. Während es sich bei der männlichen Hauptfigur um den gutaussehenden Helden handelt, dem alle Frauen nachlaufen, so verfallen die weiblichen Figuren des Films doch häufig dem altbekannten Schema des Damsel in distress. Sie reagieren schnell hysterisch, wirken schwach und in Stresssituationen fast erstarrt vor Angst, während ihre männlichen Kollegen, vor allem Mitch, in diesen Momenten zur unbekannter Höchstform auflaufen. Da stört auch eine blutige Verletzung der Hand, über die ein John McClane in Stirb Langsam mehr als Stolz gewesen wäre, keineswegs.
Was bleibt also über Hitchcocks The Birds abschließend zu sagen? Es ist, wie Truffaut das bereits in seiner Kritik erwähnte, keineswegs der beste Film Alfred Hitchcocks. Es ist jedoch allemal der spannendste, den er je geschaffen hat. Wenngleich er auch seine volle Aussagekraft und Wirkung im Laufe der letzten Jahrzehnte verloren haben mag, so ist er trotz alledem noch heute ein sehenswerter und unterhaltsamer Film.
Seine Aufnahme in den Kanon der 1001 Filme: Die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist[10] vom Herausgeber Steven J. Schneider ist demnach nicht verwunderlich und durchaus auch berechtigt. Im Vergleich zu manch anderen Filmen in dieser Auflistung ist The Birds auch heute noch sehr gut einer breiten Masse zugänglich. Es ist kein abgeschlossenes Film- oder Medienstudium notwendig, um den Wert und Einfluss, den dieses Werk auf unsere heutige Filmkultur gehabt hat, erkennen und genießen zu können.
Nachweise
[1] Truffaut, Francois: „The Birds.“ In: Robert Fischer (Hg.): Die Filme meines Lebens. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1997, S. 133.
[2] Ebd.
[3] Truffaut, Francois: „The Birds.“ In: Robert Fischer (Hg.): Die Filme meines Lebens. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1997, S. 131.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Truffaut, Francois: „The Birds.“ In: Robert Fischer (Hg.): Die Filme meines Lebens. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1997, S. 132.
[8] Truffaut, Francois: „The Birds.“ In: Robert Fischer (Hg.): Die Filme meines Lebens. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1997, S. 131.
[9] Truffaut, Francois: „The Birds.“ In: Robert Fischer (Hg.): Die Filme meines Lebens. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1997, S. 134.
[10] vgl. Klein, Joshua: „Die Vögel – The Birds.“ In: Steven J. Schneider (Hg.): 1001 Filme: Die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist. Oetwil am See/Zürich: Edition Olms AG, 2015, S. 402.