Auf den Spuren des Pestbringers.
Eine Kritik zu NOSFERATU (1922)
— Eine Kritik von Mirko Hanel —
F. W. Murnaus Werk Nosferatu – eine Symphonie des Grauens (1922) ist ein Klassiker. Der Stummfilm, nach der Buchvorlage Dracula, wird als erster Vampirfilm angesehen, der dem deutschen Expressionismus zuzuordnen ist. Er wird oft verglichen mit Werken wie Das Kabinett des Dr. Caligari. Nach beinahe hundert Jahren sind restaurierte Versionen erschienen, aber die Wirkung der ursprünglichen Bilder hat sich verändert. Unsere Sehgewohnheiten lassen sie in einem anderen Licht erscheinen. Murnaus Film ist ein Meisterwerk, aber was von dem unsterblichen Vampir ist wirklich zeitlos geblieben?
Murnau schafft es, den Grafen Orlok als düster, gruselig und unmenschlich zu inszenieren, mit langen Schatten und verzerrten Körperformen, die zwar an Menschen erinnern, aber immer wieder unnatürliche Züge aufweisen. Die Finger des Grafen sind lang und spitz, seine Bewegungen starr und teilweise ruckartig. Es wirkt, als würde er selbst an unsichtbaren Fäden gezogen, einerseits in die Höhe, dass seine schmale Linie majestätisch einschüchternd wirkt. Auch sein geisterhaftes Auferstehen aus dem Sarg, welches ihn komplett starr bleiben lässt, wirkt übernatürlich, befremdlich und irritiert. Diese Elemente verursachen noch heute einen ähnlichen Effekt, sie suggerieren Magie und Übernatürliches. Nosferatu funktioniert dabei nicht auf der Ebene der modernen Jump-Scares – der Horror haftet dem Stummfilm an, wie eine pechschwarze Aura.
Diese Aura umgibt gerade den Grafen Orlok. Um besser zu verstehen, wie ich dessen Rolle im Film bewerte, ist es wichtig, dass ich meine Agenda preisgebe: Ich verstehe Nosferatu als eine Verbindung zweier narrativer Strukturen. Einerseits, der Dreiecksbeziehung zwischen Hutter, Ellen und Graf Orlok und andererseits der Seuche, die der Vampir mit sich in die Heimat von Hutter bringt. Diese erste Struktur, die tragische Liebesgeschichte von Ellen und Hutter, die letztendlich beide Erzählstränge und den Film beendet, lässt sich aus heutiger Sicht wahrscheinlich am besten mit dem etablierten Vampir-Mythos vergleichen. In diese Kategorie fallen unzählige Filme. Aktuelle Beispiele sind etwa der Film Twilight (2008), der eine Liebesbeziehung behandelt, dominiert von der Obsession eines unwiderstehlichen Vampirs. Auch die Serie True Blood (2008-2014), welche die Maskerade der Vampire aufhebt und sie zu Bürgern ernennt, kann in diese Kategorie gefasst werden. Was die Protagonisten Sookie Stackhouse (Anna Paquin) in hier erfährt ist, dass ein Vampir in ihr Dorf in den Südstaaten zugezogen ist die beiden verlieben sich – hier ist die Zuwanderung eine interessante Parallele zu Nosferatu. Elegant erzählt die Serie Sookies Liebesgeschichten und Konflikte vor dem Hintergrund der sozialen Ausgrenzung der Vampirgemeinschaft. Auch hier wird die Liebesgeschichte vereint, mit der zweiten narrativen Struktur: das soziale Phänomen, des Coming-Outs der Untoten, welches der Vampir mit sich bringt.
Graf Orlok bringt die Pest mit sich, er ist der Todesvogel. Sein Schiff bringt wuselnde Ratten, die so zahlreich sind, dass man sich ihnen nicht zur Wehr setzen kann, ohne gebissen zu werden. Die Aufnahmen inszenieren die Ratten als zahllos, wie sie im Dunkeln aus den Kisten krabbeln. Sie tragen den Tod in sich, den der Graf bringt. Ob dieser von erhöhter Vampiraktivität in dem kleinen deutschen Städtchen abhängt, oder ob eine tödliche Seuche alleinig verantwortlich ist, überlässt die Story hier der Interpretation. Gerade darin begründet sehe ich den Geniestreich von Murnaus Inszenierung. Kritiker sehen in der Seuche den vergangenen und kommenden Krieg, den Murnau selbst, in Form des ersten Weltkriegs, miterlebte. Andere sehen darin die Strafe für die Todsünden der Bevölkerung. Ich sehe darin auch die Aura des Grafen, die den Pesthauch mit knochiger Hand am Ruder des Totenschiffs in den Hafen der Sündiger segelt.
In der Erklärung dieses Phänomens liegen die schrecklichsten, zeitlosen Bilder von Nosferatu. Wir sehen wie eine Fliege ins Maule einer fleischfressenden Pflanze gerät, wie ihr verzweifeltes Todeszucken gegen die spitzen Zähne schlägt, die ihre Todeszelle bilden. Wir betrachten einen Polypen, der mit seinen ätherischen Tentakeln seine Beute in amorphe Formen bringt, diese beginnt bei lebendigem Leibe zu zersetzen. Darauf folgen Bilder einer Spinne, die ihre Beute, betäubt und hilflose im Netz gefangen, in einen Kokon einspinnt. Die Erklärung von Bulwer, der das Phänomen des übernatürlichen Vampirs untersuchen will und in der Natur verankern, hallt in diesen Bildern nach: „Nicht wahr – wie ein Vampir!“. Murnau schafft hier, was heutzutage undenkbar ist oder lediglich in der Nachbearbeitung gestellt wird: Er zeigt den Tod lebender Wesen auf der Leinwand. Diese Aufnahmen enthüllen den wahren Horror, den Voyeurismus des Todes, der sowohl Bulwer, als auch die Zuschauer*innen in das Netz der Spinne, Maul der Venusfliegenfalle und ins Tentakelnetz gehen lassen. Hier ist etwas Makabres zeitlos geblieben: der echte Tod auf der Leinwand.
Murnau inszeniert an dieser Stelle detailgenau eines der wichtigsten Elemente der modernen Seuchen- und Zombiefilme. Die wissenschaftliche Erklärung. Sie macht das Grauen fassbar, lässt die Seuche real wirken, zumindest für damalige Zuschauer*innen. Ich verstehe dieses ernüchternde Abbilden von echten Tiertoden, einhergehend mit der semi-wissenschaftlichen Herleitung, als Grundstein für moderne Zombiefilme. Was hier eine Seuche ist, die Wahnsinn, Fieber, Tod und Blutsauger bringt und bei Kritikern mit dem kommenden und vergangenen Krieg gleichgesetzt wird, bestimmt noch heute als Phänomen moderne Kinoleinwände. Zwar handelt es sich oft um wildgewordene Seuchenbefallene, Untote oder sogar echte Vampirhorden (Wie in I am Legend, 2007), aber gerade diese können als eine Aura des Grauens gelesen werden, die der Welt des Films oder der Serie innewohnt, auch wenn sie nicht im Bild zu sehen sind. Darunter fallen Filme wie 28 Days Later… (2002), Die Filmreihe Resident Evil (2002-20010) und World War Z (2013) – um nur ein paar zu nennen. Die Filme erklären die Seuche wissenschaftlich, machen sie teilweise glaubhaft und damit schrecklich. Murnau hat mit Nosferatu nicht nur eine würdige Umsetzung von Dracula geschaffen, er hat zwei Filmgenre begründet und geprägt. Den Vampirfilm und den Zombiefilm.
Allein deswegen sollte Nosferatu zu den wichtigsten Filmen unserer Zeit zählen, denn er ermöglicht den Diskurs über die Ängste, welche den Zeitgeist ansprechen. Ähnlich wie der deutsche Expressionismus bereits als Vorwarnung auf die Bedrohung des nationalsozialistischen Deutschlands gelesen werden kann und die autoritären Strukturen der Weimarer Republik kritisierte, so versteckt sich hinter dem Horror moderner Filme auch die Aura des Grafen. Unsere heutigen Filme sind nur eben gemünzt auf aktuelle politische, soziale Phänomene und Ängste. Wenn unzählige Zombiehorden in das Land einfallen und wenige Überlebenden gegen die gierigen Fleischfresser standhalten, dann müssen wir uns fragen, was mit diesem Überlebenskampf gegen die gesichtslose Masse einhergeht. Ich bin sicher nicht der einzige, der den schrecklichen Bürgerkrieg in Syrien, welcher seit 2011 andauert, und die damit verbundenen Flüchtlingsströme in Verbindung setzen mit der bedrohlichen Thematik. An dieser Stelle ist es wichtig zu sagen, dass hier oft Ängste verarbeitet werden. Der Einwanderer aus Transsylvanien bringt eine Seuche ebenso nach Deutschland, wie der Zombie sie in die Zivilisation bringt. Man kann nur hoffen, dass die damals thematisierte Xenophobie, die große Parallelen zum Terror Regime des dritten Reichs aufweist, inklusive der Suche eines Sündenbocks in Nosferatu, sich nicht wiederholt. Die Lesart der Seuche als Genre-Strukturelement, lässt einen neuen Blick auf aktuelle Seuchen- und Zombiefilme zu. Diese handeln immer wieder von Isolation, Abschottung und der Gründung von neuen Siedlungen in einer post-apokalyptischen Welt. Sie warnen vor der kommenden Apokalypse, thematisieren im besten Falle Zuwanderung und menschliche Zusammenarbeit im Angesicht des Untergangs der Zivilisation. Wir müssen diesen neuen Horror thematisieren, diskutieren und kritisieren, um einen Zugang zu der aktuell aufkommenden Fremdenfeindlichkeit und dem gefährlichen Isolationismus zu erhalten. Wie auch bei Nosferatu liegt der Horror darin, wie Menschen auf die Seuche reagieren, sie suchen einen Sündenbock, statt an dem Problem selbst zu arbeiten. Murnau inszeniert Nosferatu, typisch für den deutschen Expressionismus – stark antiautoritär. Neben den schaurigen Bildern, macht genau dies den Film letztendlich zeitlos. In einem Zeitalter der Studio-Produktion und Riesenprojekte des Films dürfen wir nicht vergessen, dass wir aktive Zuschauer*innen werden müssen, um nicht dem leeren Gefasel des Hollywood-Einheitsbreis ins Netz zu gehen.
Murnaus Film ist also aktuell. Nosferatu ist eine große Quelle der Inspiration für nachkommende Filme, indem er bereits charakteristisch visuelle und narrative Grundbausteine für alle folgenden Vampir-, Zombie- und Seuchenfilme etabliert. Das macht Graf Orlok zum ersten patient zero. Darüber hinaus beinhaltet gerade Nosferatu wichtige Bildsequenzen, die heute noch große politische Tragweite besitzen. Nicht zuletzt ist dieser Film eine Quelle des Schreckens auf der Leinwand und zeigt uns, warum wir uns mit dem Phänomen des Schreckens und des Todes auch noch heute auseinandersetzen sollten. Was also zeitlos wirkt, das Auftreten des Vampirs, die Todesszenen im Tierreich und das Phänomen der Seuche muss besonders hervorgehoben werden, da diese Bilder uns zeigen, welches Entsetzen geblieben ist. Im Diskurs mit den restlichen Elementen, beispielsweise dem schlecht gealterten Schauspiel der übrigen Figuren, wirken gerade diese Elemente erschütternd und kommunizieren fast hundert Jahre nach dem Erscheinen von Nosferatu noch immer den gleichen Ekel.
Lotte im Bann der Vampire
Kritik zu Lotte Eisners Nosferatu Analyse und Kritik in der dämonischen Leinwand
Es braucht keinen bewanderten Filmanalytiker um zu verstehen, dass Lotte Eisner ein Fan von Murnau ist. Seine Werke und seine Arbeit als Regisseur lobt sie in den größten Tönen. Es ist das Jahr 1952 als die dämonische Leinwand erscheint, Lotte Eisner schreibt aus dem Exil, aus Frankreich. In ihren Worten findet sich herzliche Liebe zu den perfektionistisch inszenierten Bildern, das Buch handelt von expressionistischen Filmen aus der Zeit um die 20er Jahre in Deutschland. Ihre Heimatliebe wird aber nicht zu einer rosa Brille, sie kritisiert auch gerne. Vornean auch Klassiker, wie Das Kabinett des Dr. Caligari, hier lobt Eisner lediglich Bühnenbildner und Beleuchter, für den Regisseur Robert Wiene findet sie kaum freundliche Worte.
Anders spricht sie hingegen über F. W. Murnau. Er und Fritz Lang sind ihre Lieblinge, sie betrachtet Murnau als avant-garde, er habe die Kamera als einer der ersten befreit, entfesselt aus dem Stativ, welches dem Theater noch so nachhängt. Dabei bleiben ihre Beobachtungen seiner Fähigkeiten als Regisseur zwischen Höhenflügen immer wieder geerdet. Sie ist nicht blind vor Liebe, im Gegenteil – sie benutzt Murnau immer wieder, um an anderen Kritik zu üben, benutzt ihn als Erfolgsmodell. Die Inszenierung von natürlichen Elementen sieht sie, wie auch Béla Balázs, als eine der Kernkompetenzen von Murnau, er findet unheimlich schöne Bilder in bereits bestehenden Szenerien. Reißende Wasserfälle enttarnt Eisner als Vorboten des Chaos, dunkle Gipfel als die düstere Prophezeiung des überlagerten Schattens des Vampirgrafen. In der aktuellen Filmwissenschaft würde man hier eine zu starke Wertung vorwerfen, aber Eisner glänzt dennoch in ihrer Herleitung und erzeugt mit ihrem Schwärmen für Murnaus Arbeit eben eine Intersubjektivität in ihrem Zugang zum Werk, welche vielen anderen Wissenschaftler*innen im Bereich der Filmanalyse oft schmerzlich fehlt. Sie lobt selbst seine Exkurse in unnatürliche Sets, selbst Modellbauten würde Murnau beherrschen, aber dann wünsche man sich die perfekt inszenierten Berge zurück. Eisner versteht ihn als den eifrigen Dirigenten der Bilder, heute würden das der/die Editor*in übernehmen, im Schnitt, damals liegt noch viel in Murnaus Hand.
Bereits aus ihrer Perspektive etwa 30 Jahre nach Erscheinen des Films reflektiert Eisner gekonnt den Schrecken, der dem Film anhaftet. Ähnlich wie die Menschen damals vor der ersten Filmvorführung einer Lokomotive der Gebrüder Lumière Angst hatten, von dem dampfenden Koloss überfahren zu werden, so empfindet sie auch den Schrecken des Grafen, als er mit seinem Schatten über Hutter droht herzufallen und zieht eine wunderschöne Parallele. Gerade die Thematik des Todes, des Grauens und die Inszenierung des Grafen Orlok hebt sie besonders hervor und beschreibt als eine bizarre Faszination der Deutschen für das Makabre. Aus der heutigen Sicht lässt sich sagen, dass sich dies in der gesamten westlichen Filmlandschaft wiederfindet – Horrorfilme haben sich längst als Genre etabliert. Wenn die Ringgeister Frodo auf der Wetterspitze im Herrn der Ringe (2001) im schemenhaften Astralreich jagen, umgibt sie eine Aura des Schreckens, sie sind Untote – Untote in den Hollywood Filmen der Popkultur.
Lediglich Lotte Eisners Figurenanalyse des Grafen Orlok als zweigeteilten Antagonisten bleibt leider etwas unausgereift. Sie sieht die beiden Persönlichkeiten in der des Schlossherrn und der des Immobilienkäufers. Hier frage ich mich, ob seine oppositionelle Psyche nicht auch in der Dreiecksbeziehung zwischen Ellen, Hutter und ihm selbst erfasst ist. Gegenüber Hutter ist er Unternehmer, der Schlossherr und Verwalter – ich sehe hier Lotte Eisners Einschätzung also als eine einzige Seite. Für Ellen aber ist er der begehrende Vampir, der sie mit dunkler Magie zu sich beschwört, sie schlafwandeln lässt und auch derjenige, dem sie sich, als letzte Tat, hingibt. Hier steht eine kalkulierende Seite, fast kapitalistische, gegenüber der des hungrigen oralen Vampirliebhabers. Darin liegt die verheerende Dichotomie der Figur, die Lotte Eisner zwar spürbar zwischen den Zeilen wahrnimmt, jedoch nicht treffend auf den Punkt bringt.
Lotte Eisners Einschätzung der Wichtigkeit von Nosferatu ist treffsicher und gut fundiert. Dabei liegt ihr Augenmerk zunehmend auf Murnaus Tätigkeit, mit einer verstärkten Gewichtung der Naturaufnahmen und des Vampirs. Tatsächlich haftet dem Vampir ein Grabeshauch an, der sich aber auch im Schauspiel von Max Schreck als Graf Orlok begründet. Hier scheint aus der neuzeitlichen Perspektive Lotte Eisners kurze löbliche Erwähnung etwas zu kurzgefasst. Interessant ist nicht nur was Max Schreck hier spielt, auch was er nicht spielt. Sein Schauspiel ist abgehackt, seine Augen besitzen eine gewisse Macht, die sich nur durch eine fehlende Gestik an vielen Stellen auszeichnet – er beherrscht den Raum, ohne ihn mit einer breitschultrigen, klassisch dominanten Haltung einzunehmen. Sein unbewegtes „In-der-Tür-Stehen“ konterkariert die überspielten Bewegungen der übrigen Figuren. Damit wirkt er auch erhaben, wenn er aus der Untersicht auf dem Boot inszeniert wird, wie Lotte Eisner richtig erkennt. Aber gleichzeitig wirkt er nicht nur mächtig, er wirkt auch kalkuliert, unheimlich dominant. Sein Vorgehen wird erst durch Max Schrecks Schauspiel zu einem berechnenden Wesen, zum Netzspinner im Hintergrund, was auch die Tieraufnahmen andeuten. Hier muss Lotte Eisner auch im Kontext ihrer Zeit verstanden werden. Diese frühe Form des Schauspiels, dem enorm unterspielten Auftreten, welches mit bessere Kameras und größeren Bildschirmgeräten einherging, und welches sich später enorm auf die Mimik verlagert, konnte sie nicht erahnen, als sie die dämonische Leinwand schrieb. Abschließend lässt sich jedoch sagen, dass ihre Schreibweise stets treffend, liebevoll und somit echt und auch nachvollziehbar wirkt. Nicht grundlos wird sie als großartige Filmkritikerin betrachtet, die auch geholfen hat die Filmanalyse mitzugestalten.