Auf den Spuren des modernen Horrorfilms –
Nosferatu der Ur-Vampir

— Eine Kritik von Lucia Distler

Symphonie und Grauen verspricht uns Murnaus Nosferatu aus dem Jahr 1922, ein Film, der zweifellos zu den stilbildenden Vorreitern des modernen Horrorfilms zählt. In seiner Kritik in Der Tag aus dem Jahre 1923 befand Béla Balázs beide Termini für zutreffend, aber lasst uns prüfen, ob wir das im Jahr 2017 immer noch behaupten wollen. Macht die Musik den Film zur Symphonie und was geschieht, wenn man sie austauscht? Kann uns Max Schrecks Version des bösartigen, blutsaugenden Vampirs heute noch das Fürchten lehren? Wie kommt es, dass ausgerechnet Nosferatu – der seine Macher in den Ruin trieb – mehrere gleichnamige Nachfolger und weitere Filmadaptionen des Dracula Stoffes inspirierte? Und welche Bedeutung hat Murnaus Nosferatu für den Horrorfilm der Gegenwart?

Die Mysterien der Natur

 Balázs überzeugten besonders die stimmungsvollen und mystischen Naturbilder, die das heraufziehende Unheil verkünden und, wie er vortrefflich beschrieb, einen „kalten Luftzug aus dem Jenseits“ heraufbeschwören: ein einsamer Wolf im Wald, scheuende Pferde, ein verlassener Burghof, ein reißender Fluss, stille Wälder und weite Felder und auch die stürmische See. All diese Naturphänomene, die sich jeglichem menschlichen Einfluss entziehen, vereinen sich, um nicht nur den Helden auf seiner unheilvollen Reise zu begleiten, sondern auch den Vampir als unaufhaltsame und tödliche Naturgewalt anzukündigen. Gerade diese „unbekannten Mysterien der Natur“ machen uns Angst, wie Balázs sagt, und diese Stilmittel heben Nosferatu auch gegen Das Kabinett des Dr. Caligari ab, der zwar „künstlerisch origineller und vollendeter“ war, „gerade darum aber weniger schaurig“. Das Grauen liegt in der düsteren Vorahnung, die uns beim Anblick der einsamen Burgruine, Orloks schattenhafter Gestalt oder den unzähligen Ratten überfällt, die aus den Särgen gekrochen kommen. Sicher, im 21. Jahrhundert sind die Zuschauer an bildgewaltigere Spektakel gewöhnt, aber dass derartige Außenaufnahmen für die damalige Zeit etwas Besonderes waren und hervorragend eingearbeitet wurden, können wir ohne Zweifel anerkennen.  Reicht das bereits aus, um die Wirkung des Filmes zu erklären? Einzeln betrachtet sieht der angebliche Wolf – für den Dreh wurde offensichtlich eine Hyäne verwendet – doch recht niedlich aus und scheuende Pferde haben auch Hutter nicht davon abgehalten seine Reise fortzusetzen. Was also braucht es noch, um uns das Grauen näherzubringen?

Ein Vampir im klassischen Sinn

 Sehen wir uns den Vampir an, hier ein Nachfahre des Teufels und Herr über den Schwarzen Tod, hochgewachsen und bleich, mit nicht zu übersehenden Reißzähnen, einem ausgemergelten Gesicht und dunklen Schatten unter den Augen. Der Schatten eilt auch ihm selbst voraus, wenn er sich an sein Opfer anpirscht, die scharfen Krallen vorgestreckt. Graf Orlok ist ein Vampir im klassischen Sinne, der noch in Särgen schläft, nicht durch ein attraktives Äußeres und in der Sonne glitzernder Haut besticht oder sich mit einem „Tageslicht Ring“ unter die Menschen mischen kann. An Hutters Stelle möchte man jedenfalls nicht sein, wenn er den schlafenden Jäger in seiner dunklen Kammer erblickt und erkennen muss, welchem Ungeheuer er ein Haus in seiner Heimatstadt verkauft hat.

Das Grauen steckt in der Ahnung

Zur unheimlichen Stimmung tragen in jedem Fall auch Türen und Tore bei, die sich dem Vampir von alleine öffnen und damit keinen Schutz vor seinen Übergriffen bieten. Um es mit Balázs Worten zu sagen: „Ein fliegender Vorhang, eine sich öffnende Tür jagen uns mehr Schreck ein als ein sichtbares Gespenst. Denn auf die Ahnung kommt es an.“

Wenig erklärt wird die beeindruckende Fähigkeit des Grafen, sich in die Gedanken seiner fernen Opfer einzuschleichen, wird Ellen doch von Alpträumen und düsteren Vorahnungen geplagt, bevor sie Orlok überhaupt begegnet und Knock sein ergebener Diener, ohne ihn je persönlich gesprochen zu haben. Stilistisch erzielt Murnau hier gelungene Bilder, mit Ellen, die im Schlaf auf dem Balkongeländer balanciert und Knock der plötzlich, in einem Anflug von Zoophagie, nach lebendigen Fliegen schnappt. Die Logik der Erzählung ist dagegen mehr als zweifelhaft. Aber den Schwächen der Handlung wollen wir uns später widmen.

Die Symphonie

Um die Bilder in die Gefühlswelt des Zuschauers zu übertragen, braucht es die Musik. Hiermit sind wir bei der Frage angelangt, die Balázs außer Acht lässt: Was hat nun die Symphonie mit dem Grauen zu tun?

Zur musikalischen Begleitung komponierte Hans Erdmann ein vielseitiges Stück, das allerdings nicht immer für die restaurierten Versionen verwendet wurde. Das Original wurde beim Urheberrechtsstreit mit Bram Stokers Witwe vernichtet. Jahre später haben Gérard Hourbette und Thierry Zaboitzeff, für die nachträglich colorierte Fassung von Transit Film, eine gut funktionierende Musik komponiert. Beide Versionen harmonieren in unterschiedlicher Weise mit dem Bild. Oft werden die Bewegungen der Schauspieler sowie die Schnitte der Bilder zu einem Tanz, der sich mit der Musik verbindet.

In Erdmanns Komposition, die an die Musik eines dramatischen Balletts erinnert, eröffnen Streichorchester, tiefe Klaviertöne, Trommelwirbel, Bläser, Paukenschläge und trillernde Flöten den ersten Akt des Films. In weiteren Szenen übernehmen verschiedene Instrumente die Führung, wobei die Rhythmen der Stimmung der jeweiligen Szene angepasst werden.  Hourbettes und Zaboitzeffs Musik ist ebenso präzise, zeichnet sich vor allem aber durch ein deutlich erkennbares „Vampir-Thema“ aus. Dabei handelt es sich um die tiefen Klänge einer Panflöte, die immer dann zu hören sind, wenn ein inhaltlicher Bezug zu Orlok besteht. Die Musik kann aus einer ernsten Szene eine komische oder fröhliche machen und umgekehrt. In Hourbettes und Zaboitzeffs Komposition verleihen die schnellen, pfeifenden Flötenklänge Hutters Kutschfahrt in den Bergen einen beinahe komischen Eindruck. Dem setzt das unheilvolle Knarren der Burgtore allerdings gleich wieder ein Ende. Erdmanns Komposition ist zwar düster aber trotzdem harmonischer, wenn Hutter zum ersten Mal die Burg des Grafen betritt, dafür bedrohlicher, wenn Knock Hutter seinen Auftrag erteilt. In der neueren Komposition ist etwa noch die Szene auf dem Schiff besonders hervorzuheben, als der erste Maat mit Schrecken den Vampir und die Ratten entdeckt und vor lauter Entsetzen über Bord geht. Hier wird jede einzelne Bewegung musikalisch hervorgehoben, die Ratten haben ihre eigene, schrille Musik und die abgehakten Klänge, die ertönen, wenn Orlok sich starr und mit ausgestreckter Klaue aus seinem Sarg erhebt, machen den Moment umso schauriger. Erst jetzt erkennt der arme Mann, welches Unheil seine Mannschaft befallen hat und es ist längst zu spät, um noch irgendjemanden zu retten.

Da die Musik bei einem Stummfilm rein extradiegetisch ist, ist es kein Problem unterschiedliche Kompositionen mit dem Bildmaterial zu synchronisieren. Aber in dem Moment, in dem sich die Symphonie ändert, ändert sich auch die Wirkung des Grauens. Mit den beiden beschriebenen Fassungen – es sind wohlgemerkt nicht die einzigen – sind wir aber schon recht gut beim Gruseln angelangt und können zumindest stilistisch dem Untertitel des Nosferatu eine Berechtigung einräumen. Die Musik verbindet sich mit dem schauerlichen Vampir und den Naturphänomenen zu einer wundervoll gruseligen Einheit, hier ist eindeutig ein Lob angebracht.

Die Lücken in der Erzählung

Bei diesem Lob könnte man es auch belassen, wären da nicht die Schwächen der Erzählung, auf die bereits hingewiesen wurde und die es nun zu beleuchten gilt. Bálazs stellte selbst in seiner Kritik fest, dass der Film besonders durch „den Stimmungsinhalt seiner Bilder“ wirkt und nicht „durch den gedanklichen Inhalt seiner Fabel“. Er selbst war bereit, gutmütig über die erzählerischen Verfehlungen hinwegzusehen, aber jeder Zuschauer, dem die Logik der Handlung am Herzen liegt, wird manches Mal die Stirn runzeln. So kauft Graf Dracula, dem Graf Orlok hier nachempfunden ist, zu Beginn der Geschichte von Bram Stoker in London ein Haus, genauso wie Orlok sich in Wisborg niederlassen möchte. Während es für viele Adelige nicht unüblich war, ein Haus in London, einer Metropole, besitzen zu wollen, wird Orloks Verlangen von seiner Burg in den Karpaten in eine unbedeutende deutsche Kleinstadt zu ziehen, nur durch seine Gier nach Ellen gerechtfertigt. Zum Zeitpunkt seiner Anfrage weiß der Blutsauger aber noch nichts von der holden Jungfrau, womit hier entweder gänzlich auf eine Erklärung verzichtet oder die Chronologie der Erzählung für wenig relevant befunden wurde. Auch die Tatsache, dass Orlok sich mittels einer Fotografie so unsterblich in eine Frau verliebt, dass er alles stehen und liegen lässt, ist wenig glaubwürdig.

Im Vampir-Hype der letzten Jahre, haben die mittlerweile attraktiveren Blutsauger ständig neue Fähigkeiten zugesprochen bekommen. Die Grenzen ihrer Macht, werden üblicherweise in den Büchern deutlich abgesteckt und bestimmen unter welchen Umständen sie ihre Opfer spüren können, ob und wie sie ans Tageslicht gehen können und ob sie ihre Menschlichkeit behalten oder verloren haben. Für Orlok gibt es allerdings noch überhaupt keine Regeln. Diesen Umstand kann man nicht unbedingt der Romanvorlage zuschreiben, da eine gedankliche Verbindung zwischen Mina und Dracula auch erst nach ihrer „Bluthochzeit“ besteht, sondern wahrscheinlich eher dem Versuch, bei der Adaption nicht zu tief ins Detail zu gehen. Andererseits sind diese Feinheiten möglicherweise auch für ein allgemeines Gruseln für unwichtig befunden und zugunsten der stilistischen Ausarbeitung, wie dem Schattenspiel oder der Darstellung des Vampirs, fallen gelassen worden. Spätere Dracula Filme sind hier bereits kreativer, z. B. Bram Stokers Dracula von Regisseur Francis Ford Coppola, aber da Murnau nun mal der Erste war, der diesen Roman filmisch umsetzte, kann man ihm noch eine gewisse Narrenfreiheit zusprechen. In jedem Fall gehört zu einem gelungenen Film nicht nur die stilistische, sondern auch die inhaltliche Ausarbeitung, bei der sich hier leider noch Mängel aufzeigen lassen.

Nosferatus Erbe

Nosferatus Einfluss auf spätere Horrorfilme, zeigt sich besonders durch die folgenden vier Beispiele. Drei Titel tragen ihre Inspirationsquelle bereits im Namen: Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) von Werner Herzog, Nosferatu in Venedig (1988) von Augusto Caminito, Mario Caiano und anderen sowie Nosferatu – Vampirische Leidenschaft (1994) von Anne Goursaud.

Erfolgreich war von diesen dreien nur die erste Produktion: Die Handlung von Herzogs Nosferatu ist, abgesehen von der Namensgebung und Van Helsings Erscheinen, beinahe mit seinem Vorbild identisch. Nur das Ende wird an Drama überboten, als Jonathan Harker, der bei Murnau noch Hutter hieß, nicht nur unfähig ist, zu verhindern, dass sich seine Frau Lucy – vormals Ellen – dem Vampir opfert, sondern zum Schluss selbst zum Vampir wird und das blutige Tagwerk fortsetzt. In Ton und Farbe weckt das Remake einen lebensechteren Eindruck, das Schauspiel ist weniger ans Theater angelehnt, der Vampir, gespielt von Klaus Kinski, aber nicht weniger schaurig. Allerdings geht das Schattenhafte und das direkte Zusammenspiel von Musik und Bild teilweise verloren.

Nosferatu in Venedig ist der wenig erfolgreiche Versuch eines italienischen Remakes, der sich inhaltlich auf seine zwei Vorgänger stützt und ebenfalls Klaus Kinski für die Rolle des Vampirs besetzte. Der ließ sich diesmal aber nicht dazu überreden, sich die Haare abzurasieren, womit ein blonder Nosferatu die Leinwand zierte.

Im Jahre 1994 brachte schließlich Anne Goursaud Nosferatu in einer Fassung in die Kinos, die besonders durch häufige Nacktheit der Hauptdarstellerin zu überzeugen versuchte, den Kritiken nach aber sonst nichts zu bieten hatte.

Eine weitere bekannte Hommage an den Ur-Nosferatu ist Shadow of the Vampire aus dem Jahr 2000, in dem die Dreharbeiten zum Film von Vampir Max Schreck (Willem Dafoe) auf beinahe komische Weise sabotiert werden. Nacheinander fallen die Mitglieder der Filmcrew einer seltsamen „Krankheit“ zum Opfer, bis Schreck tatsächlich Schauspielerin Greta aussaugen darf. Über seiner Gier vergisst er den Tagesanbruch, der seiner Existenz schließlich ein Ende bereitet. Allein diese vier Filme beziehen sich direkt auf das Original, hinzu kommen unzählige Dracula-Adaptionen, die vielleicht nicht so früh entstanden wären, hätte Murnau – wenn auch unerlaubt – nicht den Anfang gemacht.

Der Grund für Nosferatus Auswirkungen auf die Filmgeschichte liegt nicht allein in den direkten Nachfolgern, die er inspirierte, sondern auch in den stilistischen Merkmalen, die er etablierte und die heute noch in Filmen dieses Genres zu finden sind: Übernatürliches wird in die Realität eingebunden und die Angst vor dem Unbekannten zeigt sich deutlich in Ellens Träumen und den Schatten, die Orlok vorauseilen. Präzise Klangeffekte heben den Schrecken der Figuren hervor und lassen auch den Zuschauer manches Mal erstarren. Auch die Charaktere sind für das Genre stereotyp: die jungfräuliche Braut, der Held und Bräutigam, der Wissenschaftler und der bösartige Antagonist. Somit vereint Nosferatu bereits viele Stilmittel, die im Horror-Genre sehr gut funktionieren und lädt durch seine Unvollkommenheit an manchen Stellen durchaus dazu ein, diese Ideen weiter auszubauen.

Diese Stilmittel werden heute noch zitiert, auch wenn die Horrorfilme des 21. Jahrhunderts technisch versierter sind und dem Zuschauer mit Ton, Farbe sowie besserer Bildqualität die Identifikation mit den Figuren erleichtern.

Ein gutes Beispiel jüngeren Datums ist Crimson Peak, aus dem Jahr 2015, von Regisseur Guillermo del Toro. Die Handlung spielt hauptsächlich in einer heruntergekommenen Villa, die von den Geistern derjenigen heimgesucht wird, die dort ermordet wurden. Eine junge Braut heiratet den gut aussehenden Hausherren und gerät damit nicht nur zwischen ihn und seine bösartige, eifersüchtige Schwester, sondern auch ins Visier der rachsüchtigen Geister. Auch hier finden sich die stereotypen Charaktere, übernatürliche Phänomene, die sich nicht mit dem Verstand erklären lassen, und eine natürliche Umgebung, die per se schon so unheimlich ist, dass sie die Furcht vor dem Unbekannten verstärkt.

Diese klassischen Strukturen hat Nosferatu bereits gezeigt, weshalb sich Horrorfilm-Fans sicher heute noch daran erfreuen, allein schon, um die Entwicklung ihres Lieblingsgenres nachzuvollziehen. Für weniger Horror erprobte Gemüter ist dieser Film eine gute Gelegenheit, sich mit dem Obskuren anzufreunden, da er aufgrund seines Alters eine gewisse Distanz zum Geschehen ermöglicht, ohne seine gruselige Wirkung völlig einzubüßen.