André Bazin über DIE NÄCHTE DER CABIRIA
— Eine Kritik von Stefanie Markert —
André Bazin geht in seiner 1971 erschienenen Filmkritik „Cabiria: The Voyage to the End of Neorealism“ unter anderem auf den Film Le notti di Cabiria von Federico Fellini ein. Zum Vergleich zieht er meist die Filme Il Bidone, La Strada, Lo Sceicco bianco und I Vitelloni heran. Diese meist ausufernden Vergleiche ergeben sich jedoch nur für echte Kenner des fellin´schen Filmrepertoires. Eine tiefergehende Betrachtung des einen Films mit weiteren Hintergrund-informationen, beispielsweise zur Entstehungsgeschichte oder zum Regisseur, hätte ich per-sönlich wünschenswerter gefunden als ein Aufzeigen der Parallelen zu anderen Filmen.
Bazins Aufsatz gliedert sich in 6 Abschnitte, welche wir im Folgenden näher untersuchen und beurteilen werden. Im Anschluss folgt eine selbstverfasste Kritik zum Film.
Bazin lässt direkt zu Beginn seines Artikels durch die Aussage, er hoffe, dass der neuste Film Federico Fellinis vom Publikum enthusiastisch aufgenommen werde[1], den Rückschluss zu, dass er selbst ein großer Anhänger Fellinis ist. Diese Annahme lässt sich an mehreren Stellen erkennen und zieht sich wie ein roter Faden durch die Kritik.
Leider geht André Bazin in seiner Kritik an mehreren Stellen meiner Meinung nach nicht genügend ins Detail, was ich deshalb hier nun als Kritikpunkt an seinem Aufsatz anführen möchte. Direkt zu Beginn nennt er Le notti di Cabiria als „‚too well madeʻ – a film in which practically nothing is left to chance, a film that is clever – artful even.“[2] Er gibt zwar an, dass der Film seiner Meinung nach sogar als Kunst bezeichnet werden kann, jedoch gibt er keine Erklärung oder Beispiele für seine Behauptung. Eine weitere Stelle, die den Standpunkt unterstützt finden wir auf Seite 91, zu Beginn des sechsten Abschnitts, wenn er Le notti di Cabiria als „disturbing perfection“[3] bezeichnet, ohne näher darauf einzugehen, weshalb er zu dieser doch recht eigensinnigen Bewertung kommt.
Bazin würdigt zwar im weiteren Verlauf des Kapitels die herausstechende finale Szene des Films, schafft jedoch meiner Meinung nach keine ausreichende Verknüpfung zwischen der Ausklang-Szene und der, seiner Meinung nach, Perfektion des Films.
Sehr gelungen finde ich die Formulierung auf Seite 84, in der es darum geht, dass im fellin´schen Universum Dinge nicht einfach geschehen, sondern dass die Betroffenen tatsächlich regelrecht davon befallen werden.[4] In der selbstverfassten Kritik im zweiten Teil gehe ich ausführlicher auf diesen Umstand ein. Auch Bazins Vergleich mit naturwissen-schaftlichen Kräften, die scheinbar außer Kraft gesetzt wurden[5], ist hier durchaus ein-leuchtend und meiner Meinung nach gut gewählt worden.
Zu Beginn des zweiten Kapitels äußert Bazin ansatzweise Kritik an Fellini, lenkt dann jedoch inkonsequenterweise ein und führt die Kritik nicht ausreichend genug aus. Neben der An-knüpfung des Films an den italienischen Neorealismus, welchem ich in der zweiten Kritik keine größere Beachtung schenken möchte, geht Bazin gelungen auf die Darstellung des typisch fellin´schen Charakters ein, der sich nicht durch seinen Charakter, sondern lediglich durch seine Ausstrahlung zu definieren habe.[6] Nach diesem Muster ging Fellini meist auch bei der Wahl des jeweiligen Schauspielers vor. Es ist beispielsweise bekannt, dass Marcello Mastroiani vornehmlich aufgrund seiner wächsernen Gesichtszüge und nicht nur rein nach seinem schauspielerischen Talent für Fellinis Filme ausgewählt wurde.
Eine weitere fellin´sche Eigenschaft ist, dass „Fellini´s hero never reaches the final crisis (which destroys him and saves him)“[7]. Diese Begebenheit spiegelt sich auch in Cabiria, die zwar vom Leben immer wieder niedergeworfen wird, jedoch sich immer einen Funken Hoffnung erhält und eine gnadenhafte Anmut in sich trägt.
„[D]ie Geschichte einer aggressiven, aber sehr sentimentalen kleinen Hure“[8]
Federico Fellinis Le notti di Cabiria steht und fällt mit seiner finalen Szene. „Es ist nicht allein als Finale entstanden, sondern recht eigentlich als die inspirierende Idee für den ganzen Film.“[9] Diese Aussage Fellinis lässt erkennen, welche Sorgfalt und Zeit er in seinen Film ge-steckt hat.
Le notti die Cabiria ist in sechs große Episoden gegliedert und schließt mit der finalen Szene, die es schafft, die Grundstimmung des Filmes von einer düsteren, tragisch-deprimierenden Stimmung hin zur hoffnungsvollen, frohen Zukunftsaussicht zu drehen.
In den vorausgehenden Episoden erlebt Cabiria, unsere eindrucksvolle Hauptfigur, über die wir anschließend einiges zu berichten haben, allerlei Widrigkeiten und Niederlagen in ihrem Leben, das als eine einzige große Tragikomödie beschrieben werden könnte.
In der ersten Episode versucht ihre männliche Begleitung sie bei einem Sparziergang am Fluss umzubringen. Er raubt ihr Handtasche mit Geldbörse und stößt sie in den Tiber, wissend, dass sie nicht in der Lage ist zu schwimmen.
In der zweiten Einstellung gerät Cabiria in den Beziehungsstreit des berühmten Schau-spielers Alberto Lazzari und dessen Freundin. Im Verlauf der Nacht wird sie in einem Badezimmer eingesperrt und sieht ihre neu erwachten Träume von einem besseren Leben in Reichtum und Extravaganz schwinden.
Desillusioniert tritt sie den Heimweg an und hat sozusagen eine Begegnung mit ihrem zukünftigen Selbst. Cabiria trifft auf eine ehemalige Prostituierte, die sie früher einmal be-wundert hatte und welche nun in einem schmutzigen Erdloch lebt und auf die Hilfe der Wohlfahrt, verkörpert durch den Mann mit Sack, angewiesen ist. Es zeigen sich gewisse Parallelen zwischen Cabiria und der ehemaligen Prostituierten auf, so hatte unsere Hauptfigur immer mit Bewunderung zur Älteren aufgesehen, da diese ein eigenes, wenn zwar schäbiges, Haus besaß und nicht auf die vermeintliche Barmherzigkeit eines Zuhälters angewiesen war. Doch weder das Haus noch die Unabhängigkeit haben der ehemaligen Prostituierten ein menschenwürdiges Altern erlaubt.
So in ihren Grundfesten erschüttert wendet sich Cabiria dem Glauben zu und pilgert zum Schrein der heiligen Mutter Gottes, um diese auf Knien um die Gnade Gottes anzuflehen und um ein göttliches Zeichen zu bitten. Als ihr dieses Zeichen verwehrt bleibt, scheint Cabiria an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt zu sein.
In der nächsten Einstellung gibt Cabiria in einem Variété-Theater unter dem Einfluss der Hypose stehend ihre tiefsten Sehnsüchte und Gefühle, wie beispielsweise das Verlangen nach Liebe und Geborgenheit, vor einem grölenden Publikum preis und wird öffentlich gedemütigt. Wie ein verwundetes Tier versucht sie sich nach der Vorstellung vor der Masse zu verstecken und wird von einem scheinbar ehrenwerten Mann angesprochen, der vorgibt der Mann ihrer Träume zu sein.
Cabiria verliebt sich in Oscar und verkauft im Zuge der gemeinsamen Zukunftspläne ihr Haus, welches ihr ganzer Stolz ist. Am Rande einer Klippe erkennt sie, dass auch Oscar nur hinter ihrem Geld her ist. Aus Angst um ihr Leben wirft sie ihm die Tasche mit ihren kompletten Ersparnissen freiwillig zu und wälzt sich aus purer Verzweiflung und Hilflosigkeit auf dem Boden. Cabiria fleht ihren Betrüger förmlich an, er möge sie von ihrem Leid erlösen und umbringen. Oscar verlässt fluchtartig die tobende Cabiria, die mutterseelenalleine zurück-bleibt.
Dies ist der Moment, indem die finale Sequenz gezeigt wird: die völlig am Boden zerstörte Cabiria hört Musik und läuft einer zur Straße, an der sie einige fröhlich tanzende junge Menschen trifft, die sie umringen und ihr wieder Hoffnung geben.
Fellini äußerte sich zu dieser Schlusssequenz folgendermaßen:
„Zum Ende des Films ist mir die Idee gekommen, sie [Cabiria] einem Grüppchen lustiger Käuze begegnen zu lassen, also sehr jungen Leuten, das heißt, einer zukünftigen Menschheit, die freundlich, sie ein bisschen neckend, aber treuherzig zum Zeichen ihrer Verbundenheit ihr ein Lied vorspielen. Diese Idee ist dann letztlich die Keimzelle des Films gewesen.“[10]
Interessant ist es auch der Entstehungsgeschichte des Films einen kurzen Absatz zu wid-men. Fellini hatte die Idee zu einer einzelnen Episode, genauer der zweiten Episode[11], des Films bereits eine ganze Weile vor der Realisierung von Le notti di Cabiria. Nachdem er bei einem Dreh eine in der Nähe lebende Prostituierte kennen lernte, entwickelte er die weiteren Episoden und erschuf den Charakter Cabiria.
Seine Hauptfigur ist, wie er selbst zugibt, nicht nur durch die Darstellerin Giulietta Masina verkörpert worden, sondern auch durch diese inspiriert worden, handelte es sich schließlich um seine Frau. Fellini findet ein paar nette Worte für Giulietta Masina und ihre schau-spielerische Leistung, indem er sie als „eine Schauspielerin, die ein überschwengliches, aggressives, recht feuersprühendes Temperament hat“[12] bezeichnete. Die Beschreibung Giuliettas lässt sich gut mit dem Zitat der Überschrift, welches auf charmant plumpe Weise den Charakter Cabirias beschreibt, zusammenbringen: „die Geschichte einer aggressiven, aber sehr sentimentalen kleinen Hure“[13].
Die fast schon komisch anmutenden Unterschiede zwischen Cabiria und ihrer Umwelt lassen sich beispielsweise an ihrer Kleidung, Gestik und Mimik ausmachen und erzeugen eine gewisse Komik im Film. Besonders auffallend ist der Gegensatz in der zweiten Episode, in der Cabiria sich im Zuhause des Schauspielers Lazzari befindet.
Nicht nur ihre extravagante Kleidung, sondern auch ihr kindlicher Trotz und ihre unschul-dige Gutherzigkeit machen Cabiria meiner Meinung nach zu einem der liebenswertesten Charaktere der Filmgeschichte, der es jedes Mal aufs Neue schafft, die ungeteilte Aufmerk-samkeit des Zuschauers zu gewinnen und ihn in seinen Bann zu ziehen, denn wer kann denn schon wegschauen, wenn Cabiria am Boden liegt und herzzerreißend „Non voglio piu vivere“ schreit?
Text- und Filmgrundlage:
Bazin, André: „Cabiria: The Voyage to the End of Neorealism.“ In: ders.: What is Cinema?. Volume 2. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1971, S. 83–92.
Le notti di Cabiria, Regie: Federico Fellini. Italien/Frankreich 1957.
Nachweise:
[1] Vgl. Bazin 1971, S. 83.
[2] Bazin 1971, S. 83.
[3] Bazin 1971, S. 91.
[4] Vgl. Bazin 1971, S. 84.
[5] Vgl. Bazin 1971, S. 84/85.
[6] Vgl. Bazin 1971, S. 88.
[7] Bazin 1971, S. 90.
[8] Fellini, Federico: Die Nächte der Cabiria. Le notti di Cabiria. Idee und Drehbuch von Federico Fellini in Zusam-menarbeit mit Ennio Flaiano, Tulli Pinelli und Brunello Rondi. Mit 53 Fotos. Diogenes: Zürich 1989, S. 10.
[9] Fellini 1989, S. 157.
[10] Fellini 1989, S. 158.
[11] Vgl. Fellini 1989, S. 9/10.
[12] Fellini 1989, S. 156.
[13] Fellini 1989, S. 10.