Alles auf Anfang
DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL und der italienische Neorealismus
— Eine Kritik von Alexander Wax —
Deutschland im Jahre Null, so der Titel des Films von Roberto Rossellini, der 1948 erschienen ist, erzählt die Geschichte des 12-jährigen Edmund und seiner Familie. Im Nachkriegsdeutschland fehlt es an allem: Geld, Nahrung und einer eigenen Unterkunft. Gemeinsam mit seinem kranken Vater, seiner Schwester Eva und seinem Bruder Karl-Heinz wohnt Edmund in einem teilweise zerstörten Wohnhaus mit anderen Flüchtlingen zusammen. Da Karl-Heinz Angst hat, sich aufgrund seiner Vergangenheit als Soldat bei der Polizei registrieren zu lassen, hat er auch keine Essenskarte. Aus diesem Grund muss die Familie mit dem Essen von drei Leuten für vier Personen auskommen. Zwar versucht Eva abends als Begleitung von Soldaten der Besatzungsmächte ein paar Zigaretten abzugreifen und sich – nach eigenen Angaben – zu zerstreuen, zum Leben reicht das Geld bzw. die Zigaretten für den Schwarzmarkt aber nicht. Auch der kleine Junge Edmund möchte die Familie unterstützen. Mit Arbeiten auf dem Friedhof und auf dem Schwarzmarkt versucht er, etwas dazuzuverdienen. Allerdings gelingt ihm dies nicht, er hat keine Arbeitserlaubnis, um auf dem Friedhof Löcher auszuheben. Auf seinem Weg durch das zerstörte Berlin trifft er auf seinen ehemaligen Lehrer, Herrn Enning. Aufgrund seiner nationalsozialistischen Einstellung wurde er nach dem Krieg jedoch vom Dienst suspendiert. Her Enning umgarnt den jungen Edmund, welcher – durch seine Naivität geblendet – seinen ehemaligen Lehrer begleitet. Es stellt sich heraus, dass Enning immer noch in nationalsozialistischen Kreisen verkehrt und dessen Mitglieder versuchen mit Kindern Profit zu schlagen, indem sie diese auf den Schwarzmarkt schicken. In der Annahme, Lehrer Enning würde Edmund helfen, schickt er auch diesen los, um eine Schallplatte mit Aufnahmen Hitlers an Soldaten der alliierten Streitkräfte zu verkaufen.
Doch auch auf dem Schwarzmarkt hat Edmund kein Glück, um die Existenz der Familie zu sichern. Alle seine Versuche, die Familie zu unterstützen scheinen zum Scheitern verurteilt. Unterdessen geht es dem Vater immer schlechter, er muss ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das Schicksal und die Krankheit seines Vaters nehmen den Jungen mit. Als Edmund erneut seinen Lehrer aufsucht, um für ihn noch einmal etwas auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, weißt dieser den Jungen jedoch ab. Bei Gespräch wird erneut ersichtlich, dass Enning – die nationalsozialistische Gesinnung immer noch im Kopf –rät Edmund, sich nicht weiter um den Vater zu kümmern und seinen Zustand nicht weiter zu beachten. Schließlich müssen die Schwachen gehen, damit die Starken bleiben. Der verwirrte Edmund nimmt dies als Anlass, seinen Vater zu vergiften. Das Ausmaß seines Handels wird dem Jungen jedoch erst später bewusst werden.
Der französische Filmemacher und Filmkritiker André Bazin hat sich im Zusammenhang mit dem italienischen Neorealismus auch mit Deutschland im Jahre Null auseinandergesetzt. Doch was bedeutet der italienische Neorealismus überhaupt für Bazin? Grundsätzlich ist er der Auffassung, dass Realismus im Film nicht von Beginn an gegeben ist, sondern immer erst konstruiert wird. Dies geschieht über filmische Mittel. Er untersucht den Film also nicht inhaltlich auf Bezüge, die dem Realismus zugeschrieben werden können, sondern formell. Maßstab hierfür sind für Bazin sowohl Technik, als auch Authentizität. Durch diese beiden Mittel wird im Film der Eindruck von Realitätsnähe konstruiert. Den Begriff des Neorealismus siedelt Bazin hierbei zwischen diesen beiden Werkzeugen zur Realismuskonstruktion an. Für ihn ist Neorealismus kein Neuanfang oder gar eine neue Epoche, sondern viel mehr eine Neuorientierung, die die Zerstörung, die der zweite Weltkrieg mit sich gebracht hat, notwendig macht. Zunehmende Themen innerhalb der Filme, die zum Neorealismus zählen sind Armut, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit.
Dies ist auch in diesem Film von Roberto Rossellini der Fall. Mit diesem Werk leistet er einen Beitrag zum beschriebenen italienischen Neorealismus, der sich in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zu etablieren scheint. Deutschland im Jahre Null ist Teil einer Trilogie, Rossellini widmet den Film seinem kurz vorher verstorbenen Sohn. Neben Rossellini prägen ab 1945 auch die Regisseure Vittorio de Sica und Luchino Visconti den Filmmarkt. Als letzter Teil der Trilogie Rossellinis stellt Deutschland im Jahre Null eine Besonderheit dar. Die Filme Rom, offene Stadt und Paisà erzählen vom Ende des zweiten Weltkrieges und zeigen die Situation Italiens. Deutschland im Jahre Null hingegen beschäftigt sich mit den Folgen der Nachkriegszeit für Deutschland, konkret in der Hauptstadt Berlin. Durch den zweiten Weltkrieg wurde die Infrastruktur Berlins fast vollständig zerstört. Auch moralische Grundeinstellungen haben sich durch den Krieg enorm geändert. Der Film arbeitet jedoch heraus, dass auch in der Hauptstadt Deutschlands noch nationalsozialistisches Gedankengut vorhanden ist, wenn auch im Untergrund.
Bazin geht in seiner Kritik, die zum ersten Mal 1949 in der Zeitschrift Esprit abgedruckt wurde, zunächst nicht auf das vermeintlich offensichtliche Thema ein, das der Film an sich behandelt, nämlich Nachkriegsdeutschland und dessen Präsentation innerhalb des Films. Ganz im Gegenteil, Bazin legt sich auf darauf fest, welche Emotionen Bilder von traurigen Kindergesichtern beim Zuschauer auslösen können und welchen Einfluss diese auf die Originalität, den Realismus des Films haben. Doch nicht das Zeigen von Emotion führt für Bazin zum Realismus in Rossellinis Film, sondern gerade die Abwesenheit dieses „Zur-Schau-Stellens“ von Gefühlen. Angelpunkt für die Erzeugung von Originalität ist für Bazin immer die Darstellung des 12-jährigen Protagonisten Edmund.
Dies kann als einer der neorealistischen Faktoren festgehalten werden, mit denen sich Bazin auseinandersetzt, welcher als tiefgreifender Humanismus beschrieben werden kann. Hierbei spielt der einzelne Charakter eine Rolle und nicht die Masse, das Individuum muss sich in seiner Welt zurechtfinden. Auf Deutschland im Jahre Null bezogen ist Edmund derjenige, der sich mit den Problemen der Nachkriegszeit beschäftigen muss. Als besonders beschreibt Bazin in diesem Zusammenhang den Umgang Rossellinis mit seinen Figuren. Er verzichtet laut Bazin auf eine Subjektivität dieser, so werden keine Gefühlswelten für den Zuschauer unmittelbar sichtbar. Die Emotionen, die die Charaktere im Film umtreiben erfährt der Zuschauer lediglich aus dem Kontext, also daraus, dass es die Aufnahme eines vermeintlich emotionslosen Gesichtes in den Kontext der Story einzuordnen gilt. So lässt sich der Erzähltechnik, die Rossellini hier verwendet durchaus eine realismus-stiftende Wirkung zuschreiben. Besonders die Filme Rossellinis sind durch eine elliptische Erzähltechnik gekennzeichnet, es werden also Teile der Story nicht in den Plot eingearbeitet, sondern sie werden weggelassen. Als weiterer Faktor für einen neorealistischen Film kann der Umgang mit den Darstellern genannt werden. Konkret verzichtet Rossellini auch in Deutschland im Jahre Null auf professionelle Schauspieler. Dies wiederum hat für Bazin Einfluss auf das Erzielen von Authentizität. Durch den Verzicht auf Stars ist eine bessere Identifikation mit den Charakteren möglich.
Am besten sichtbar wird die besondere Ästhetik des Films für Bazin in den letzten 15 Minuten. Nach dem Tod des Vaters müssen Edmund und seine Geschwister den Wohnkomplex verlassen und umziehen. Jedoch will Edmund nicht mit ihnen gehen und läuft weg. Der Junge beginnt seine Odyssee durch verschiedene Settings des zerbombten Berlins, die der Zuschauer im Verlauf des Filmes bereits besucht hat. Hierbei wird deutlich, dass Rossellini darauf verzichtet, plakativ Orte zu filmen, die dem breiten Publikum bereits bekannt sind und den Ort des Geschehens eindeutig als Berlin ausweisen. Er verzichtet hierbei also auf eine sensationsbezogene Darstellung. Edmund macht sich erneut auf den Weg zu seinem ehemaligen Lehrer, für den er bereits eine Platte auf dem Schwarzmarkt verkauft hat. Ihm gesteht Edmund, dass er „es getan habe“. Er meint damit, dass er seinen Vater vergiftet hat. Lehrer Enning gerät daraufhin in Panik. Er hat Angst, dass man ihn dafür verantwortlich machen würde, hatte er Edmund doch gesagt, dass die Schwachen gehen müssen, um Platz für die Starken zu machen. Es kommt zum Streit, Edmund flieht. Und auch beim Ballspiel in den zerstörten Straßen findet der Junge keinen Anschluss. Selbst in dieser emotionalen Szene wird der Gefühlszustand Edmunds nicht über den Ausdruck seines Gesichtes kommuniziert. Wie Bazin in seiner Kritik bereits erwähnt wird auch hier die Realität und Originalität vom Kontext erzeugt, in dem sich die Handlung abspielt, nicht durch plakative Nahaufnahmen des Kindergesichts.
Besonders an der Schlusssequenz ist, dass diese fast ohne den Einsatz von Dialog auskommt. Durch das Verwenden von expressiver Musik und derartiger Kameraeinstellungen wird der Eindruck erweckt, dass Edmund nicht länger in die deutsche Nachkriegswelt passt. Es scheint fast so, als wäre auch dies Edmund bewusst. Nachdem er den Abtransport des Sarges seines Vaters aus einem Stockwerk eines Hauses gegenüber seines Wohnhauses beobachtet, stürzt sich der Junge in die Tiefe und stirbt.
Durch die Verwirrung über seine Taten zeichnet Rossellini das Bild einer verwirrten Nachkriegsgesellschaft nach. Wie geht es weiter? Was wird aus uns? Was ist richtig, was ist falsch und wer überhaupt entscheidet, was richtig und falsch ist? Fragen, die auch im Film Deutschland im Jahre Null prominent sind. Gewicht erhalten diese Fragen gerade aus dem Grund, weil ein 12-jähriger Junge versucht, Antworten darauf zu finden. Nicht für die Gesellschaft, sondern allein für sich. Mit dem Ende des 78-minütigen Films zeigt Rossellini auf, dass es seinem Protagonisten Edmund nicht möglich war, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Eine Kindheit die keine mehr ist, allein durch den Umstand der Nachkriegszeit wird in diesem neorealistischen Film zum Exempel erhoben, dass das Leben im zerstörten, zerbombten und besetzten Deutschland nicht einmal für die Jüngsten der Gesellschaft mit positiven Perspektiven auf die Zukunft aufwarten konnte. Man darf nicht vergessen, dass es so, wie es derzeit in Syrien und anderen Ländern im Nahen Osten aussieht, auch in Deutschland ausgesehen hat. Genau dieselben Fragen, die sich die deutsche Bevölkerung nach einer Zukunft, nach Perspektive stellen mussten, müssen sich heute erneut Tausende stellen. Obwohl der Film 60 Jahre alt ist, ist seine Thematik doch aktueller denn je. Schlimm genug, dass einige Deutsche das Schicksal unseres Landes in den Jahren nach 1945 bei ihrer Willkommenskultur wohl nicht mehr vor Augen haben. Anstatt den Menschen, die vor Elend, Leid und Tod fliehen, mit Hass entgegenzutreten, sollten sich einige von uns dem bewusst werden, dass auch viele Deutsche nach dem Krieg nichts hatten, nicht einmal eine Perspektive. Trotz allem ist es schade, dass solch ein gelungener Film noch immer nichts an seiner Aktualität eingebüßt hat. Freilich stumpfen wir beim täglichen Blick in die Zeitungen und die Nachrichtenmagazine ab, wenn wir Bilder zerbombter Städte und Straßen sehen. Aber doch wohl nur, weil „in weiter Ferne“ passiert und nicht direkt vor der eigenen Haustür.
In Deutschland wurde der Film Rossellinis zunächst sehr negativ gesehen, weswegen er nach seinem Erscheinen nicht gezeigt wurde. Diese Reaktion verdeutlicht, dass Deutschland ein klares Problem damit hatte, seine Kriegsvergangenheit adäquat aufzuarbeiten. Außenaufnahmen des zerstörten Deutschlands waren zu dieser Zeit unüblich, Rossellini bricht hier also mit einem Tabu. Die Art und Weise wie er die Orte in den Film einarbeitet zeigen jedoch alles andere als einen respektlosen Umgang mit der Situation. Bekannte Plätze in Berlin, die einem breiten Publikum bekannt sind, werden kaum gezeigt. Durch das Verwenden reale Kulissen und Schauplätze, die im wirklichen Leben vom Krieg zerstört wurden, sollten die Kategorien, die André Bazin in seiner Kritik zum Film zur Beschreibung des Realismus anlegt um einen weiteren Faktor erweitert werden. Nämlich die Einbettung fiktiver Charaktere in reale Schauplätze. Durch die Kombination von Realität und Spiel bekommen die Bilder im Film noch einmal einen anderen, fast schon dokumentarischen Gehalt. Bazin weist die Machart von Deutschland im Jahre Null als etwas aus, das innerhalb bisheriger Werke, die dem Realismus zugeschrieben werden, noch nicht dagewesen ist. Rossellini schafft es nämlich für Bazin, durch Objektivität Realismus zu erschaffen. Durch das Nicht-Darstellen komplexer Gefühlswelten ist kein subjektiver Blick auf die Emotionen der Charaktere möglich. Durch den Kontext jedoch schafft der Film es, gerade diese Objektivität als einen neuen Garanten für die Erzeugung von Realismus im Film zu etablieren.
Besonders deutsche Kritiker werfen Rossellini vor, mit Deutschland im Jahre Null eine Grenze überschritten zu haben. An die Darstellung des zerstörten Deutschlands war man in dieser Zeit nicht gewohnt, weswegen die Aufarbeitung beziehungsweise das Begleiten der deutschen Nachkriegszeit Rossellinis von zeitgenössischen Kritikern oftmals als respektlos interpretiert wurde. Obwohl 1948 veröffentlicht, wurde der Film erst im Jahr 1987 in Ost-Deutschland uraufgeführt. Mittlerweile weiß man um den Wert des Filmdokuments für die Aufarbeitung der Geschehnisse sowie der Filmwissenschaft gleichermaßen.
Mit Deutschland im Jahre Null beschreibt Rossellini durch die besondere Art, Emotion in den Film einzubetten, die Verlorenheit und Verwirrtheit einer gesamten Generation anhand eines 12-jährigen Kindes. Die Objektivität des Filmes, für die Rossellini sich entschieden hat, erklärt er in einem Vorwort, das dem Hauptfilm voranseht. Er betont, jedoch auch, dass es wichtig sei, den deutschen Kindern, das Leben und Lieben wieder beizubringen. Mit Deutschland im Jahre Null erklärt Rossellini eine gesamte Generation für verloren. Diese Verlorenheit gilt es zu überwinden. Der Film stellt eine narrativ eingebettete Bestandsaufnahme der Ist-Situation im Deutschland der Nachkriegszeit dar, dessen Wert – auch für gesellschaftlichen Belange – leider erst sehr viel später erkannt wurde.