Zeitloses Drama oder ein Musterbeispiel an Substanzlosigkeit?
Siegfried Kracauer und DER BLAUE ENGEL
— Eine Kritik von Natalie Braun —
Männer umschwirr’n mich, wie Motten um das Licht. Und wenn sie verbrennen, Ja dafür kann ich nichts. Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, ich kann halt lieben nur und sonst gar nichts.
Die weibliche Hauptrolle als Varieté-Darstellerin Lola Lola, in dem Film Der Blaue Engel von Josef von Starnberg aus dem Jahr 1930, ist der Ausgangspunkt für Marlene Dietrichs Weltkarriere als Schauspielerin und Femme Fatale. Der Film handelt von dem angesehenen Gymnasialprofessor Rath, gespielt von Emil Jannings, der an seiner Liebe zu der lasziven Sängerin zugrunde geht. Der Protagonist befindet sich in einem Zwiespalt zwischen seiner konservativen Spießigkeit und dem Verlangen nach der Lebedame Lola Lola. Der Blaue Engel basiert auf der Romanvorlage des Professor Unrat von Heinrich Mann aus dem Jahr 1905, weicht allerdings auch teilweise von dieser ab.
Immanuel Rath ist zu Beginn des Filmes der Inbegriff des Spießbürgertums und als Gymnasialprofessor eine Figur der Autorität. Als er mitbekommt, dass seine Schüler ein anrüchiges Varieté frequentieren ist er empört. Er will die Sängerin Lola Lola zur Rede stellen, erliegt jedoch bereits bei der ersten Begegnung ihren Reizen. Für die Beziehung zu der Lebedame wird er in der Schule verhöhnt und aufgrund seiner raschen Verlobung vom Schuldirektor entlassen. Zunächst kann der gesellschaftliche Abstieg Raths Glück nicht trüben, nach einem kurzen Zeitsprung sieht seine Situation allerdings bereits anders aus: Frustriert und völlig entgegen seiner Einstellung verkauft er Postkarten seiner Frau an das Publikum. Nach einem weiteren Zeitsprung um 5 Jahre ist deutlich, wie sehr der arbeitslose Rath unter seinem neuen Leben leidet. Er soll in seiner Heimatstadt als Clown auftreten und sich so vor der höhnenden Masse bloß stellen. Als er auch noch mit ansehen muss, wie seine Frau mit einem anderen Mann anbandelt verliert er vollends den Verstand. Auf der Bühne erlebt er einen Zusammenbruch und kräht minutenlang wie ein Hahn. Schlussendlich stirbt der ehemalige Professor in seiner alten Schule, während er sich krampfhaft am Pult festkrallt.
Kracauers Kritik zu Der Blaue Engel ist im Juni 1930 in Die Neue Rundschau erschienen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Rezension des Filmes, Kracauer nimmt diesen vielmehr als Anlass für eine Kulturkritik. Bereits in seiner sprachlich grandiosen Einleitung spricht er von der „Staffage“ und dem „leeren Schaugepränge“ welche seiner Meinung nach typisch sind für die damalige Öffentlichkeit. Den Film Der Blaue Engel kritisiert er als ein Musterbeispiel an Substanzlosigkeit, das symptomatisch ist für den Wunsch seiner Zeit nach Wirklichkeitsflucht. Es ist eine zuweilen reißerische Kritik zu einem Film der heute zu den Klassikern des frühen Tonfilmes zählt. Kracauer deutet auch an, dass die Presse 1930 eine konträre Position einnahm. Dabei bewertet der Kritiker den Film nicht gänzlich schlecht. Er lobt die schauspielerische Leistung und hebt die herausragende technische Machart und insbesondere den Schnitt hervor. Den Wechsel zwischen Sprechszenen und stummen Szenen bezeichnet er als „Spitzenleistung“.
Wie sich aus Kracauers Rezensionen oft herauslesen lässt ist der Kritiker in jedem Film auf der Suche nach einer Wahrheit, einer Kernaussage des Films. Im Fall von Der Blaue Engel sieht er ausschließlich eine Beziehungsgeschichte ohne übergeordnete Zusammenhänge. Einer seiner Hauptkritikpunkte ist ein fehlender Bezug zu den gesellschaftlichen Umständen. Kracauer vermisst Anknüpfungspunkte zur ökonomischen und sozialen Situation in Deutschland in den 30er Jahren und geht davon aus, dass der Film bedeutsam sein könnte, wenn die gesellschaftlichen Hintergründe der Figuren im Hinblick auf ihre Beziehung genauer beleuchtet worden wären. Seine Kritik wirft jedoch die Frage auf, ob ein Film „gerade in solchen Zeiten“ wie Kracauer 1930 sagt, nicht auch der Wirklichkeitsflucht dienen darf. Kracauer selbst versteht sich geschichtlich gesehen in der Nachkriegszeit und sieht die Notwendigkeit der Aufarbeitung von äußeren Gegebenheiten.
Das Jahr 1930 ist eine schwere Zeit in Deutschland. Es ist eine Zeit die geprägt ist von der Weltwirtschaftskrise, der Knappheit, einer starken Trennung der gesellschaftlichen Schichten und dem politischen Umbruch. Der geschichtliche Aspekt ist im Zusammenhang mit dieser Filmkritik besonders interessant. Die Romanvorlage des Professor Unrat von Heinrich Mann ist eine Satire über das deutsche Bürgertum um 1900. Das Buch setzt sich mit der Gesellschaft zu einer Zeit vor dem ersten Weltkrieg auseinander. An mehreren Stellen in der Filmkritik wirkt es als distanziere Kracauer sich und seine Zeit von den Umständen vor dem Krieg. Er sieht keine Parallelen zwischen dem Erscheinungsjahr des Buches und des Films. Das Werk von Heinrich Mann bezeichnet er abschätzig als „Vorkriegsbuch“ und hinterfragt warum es überhaupt verfilmt wurde. Aus heutiger Perspektive sind die Parallelen zwischen 1905 und 1930 deutlicher. Beide Autoren befinden sich in einem Land das von Problemen geplagt ist und in dem ein Krieg kurz bevor steht. Die Kultur-kritik, die Kracauer übt, ist zu Teilen dennoch angebracht, denn in den 1930ern sollte bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und sozialen Themen ein besonders hohes Maß an Substanz angesetzt werden.
Obwohl Kracauer gegen die Wirklichkeitsflucht durch den Film plädiert, empfindet er auch die Thematik einer privaten Tragödie als problematisch. Er sieht in dem Beziehungsdrama zwischen Professor Rath und Lola Lola keine Relevanz und kritisiert den Film dafür, dass seelische Vorgänge „nach außen gezerrt“ werden. Dies sei ein Nebeneffekt davon, dass in Der Blaue Engel die äußere Umstände in den Hintergrund treten sollen: „Ein umgestülpter Handschuh: die Innenseite wird zu Außenseite gemacht, damit diese unsichtbar wird, und Jannings darf so gewaltig krähen, wie er nur mag.“
Die gleichzeitige Kritik an der Wirklichkeitsflucht und der Darstellung von seelischen Vorgängen ist meiner Meinung nach widersprüchlich. Das Herausplatzen von inneren Problemen der Figur beim Zusammenbruch von Professor Rath wirkt auf mich eher so, als würde ihn die Wirklichkeit letztlich einholen. Durch die Figur des Rath wird die Spaltung der Gesellschaft verdeutlicht. Darüberhinaus legt sein Zwiespalt offen, dass es für eine Person zur damaligen Zeit nahe zu unmöglich war aus der eigenen gesellschaftlichen Schicht oder Rolle herauszubrechen. Das gelingt weder Rath noch Lola.
Im Gegensatz zu Kracauer bin ich der Meinung, dass der Film über die Beziehungsgeschichte hinaus Relevanz besitzt. Er setzt sich auf eine außergewöhnliche Art und Weise mit gesellschaftlichen Schichten auseinander, da hier der Fokus auch auf den moralischen Schichten liegt, in denen die Hauptfiguren gefangen sind. Während Rath eigentlich bieder und konservativ ist gibt er seinen Trieben nach und begibt sich in Lolas wilde Welt. Letztlich geht er an den Grenzen seiner Flexibilität zugrunde. Ein Ausbruch aus der sozialen Schicht bringt Rath an den Abgrund.
Die Abwesenheit von direkten Bezügen zur sozialen Situation 1930 macht den Film möglicherweise erst so zeitlos. Die Anknüpfungspunkte, welche die Gesichte mitbringt, lassen sich von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, auf die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, bis in unsere heutige Zeit übertragen. Deshalb verliert der Film nicht an Aktualität.
Kracauer beschränkt sich in seiner Kritik auf die Aspekte der Kulturkritik und der Kritik an der Wirklichkeitsflucht. Auf die Erzählstruktur des Filmes geht er nicht ein. Dabei ist es bezeichnend, dass der Film trotz einer langen Erzählzeit und einigen langatmigen Szenen zu Beginn mit zwei Zeitsprüngen arbeitet. Der erste ist überhaupt nicht angedeutet und lässt sich nur inhaltlich ablesen. Der zweite, größere Zeitsprung, der durch fallende Kalenderblätter symbolisiert wird, endet an einem Punkt an dem Professor Rath unter seinen Lebensumständen leidet. Die besonders spannende Zeit in der Rath nach und nach an der Beziehung zugrunde geht wird nicht dargestellt. Da der Film als einer der ersten deutschen Tonfilme mit einer Mischung aus Sprechszenen und stummen Szenen arbeitet und gleichzeitig eine deutsche und eine englische Version gedreht wurde kommt Der Blaue Engel mit sehr wenigen und kaum ausführlichen Dialogen aus. An einer Stelle, an der so viel Zeit übersprungen wird ist dies zu bedauern. Es wäre wichtig durch Dialoge mehr über die jeweiligen Persönlichkeiten zu erfahren. Ein erklärender monologartiger Gefühlsausbruch könnte beispielsweise über den Zeitsprung hinweg helfen. Stattdessen geht am Ende alles recht schnell, was ganz im Kontrast zur ersten Filmhälfte steht. Ein so vielschichtiges Problem, wie das des Professor Rath, hätte deutlich mehr besprochen werden sollen. So bleibt das unbefriedigende Gefühl nur Anfang und Ende des Filmes gesehen zu haben.
Die besondere Faszination die Der Blaue Engel auch heute noch ausüben kann liegt in den kuriosen Figuren begründet. Bei dem Zugrunde gehen des Professor Rath handelt es sich um ein ernstes Thema. Ganz im Kontrast dazu steht seine Portraitierung als Lachnummer. Der Protagonist wird sowohl in seiner Spießigkeit als auch in seinem Abgrund völlig überzeichnet. Zu Beginn ist er ein strenger, häufig unfreiwillig komischer Lehrer. Die Darstellung erinnert an Die Feuerzangenbowle, ein Film der später Kulissen und Unterrichtsszenen aus Der Blaue Engel übernommen hat. Insbesondere auch in der Interaktion mit Lola Lola entsteht aus der Unbeholfenheit von Rath eine Situationskomik. Nach dem Zeitsprung über 5 Jahre wirkt der Professor wie ein Schatten seiner Selbst. Als er seinen Verstand verliert kräht er minutenlang wie ein Hahn. Auch seine Todesszene und das Festkrallen am Pult wirkt überspitzt. Trotz des dramatischen Charakters des Filmes ist der Protagonist kein tragischer Held, sondern eine Witzfigur mit Schnauzbart und Schnupftuch. Die erste Filmhälfte wirkt, aufgrund des Humors in den ausgedehnten Szenen im Klassenzimmer und den Begegnungen von Professor Rath mit Lola Lola, wie eine romantische Komödie. Nach der Hochzeit findet jedoch ein Genrewechsel statt. Von einer seichten Komödie wandelt sich der Film zum Drama. Die Wende kommt plötzlich und unerklärt und spielt mit den Erwartungen der Rezipierenden. Die Witzfigur wirkt in der ernsten Thematik völlig verloren und unangemessen. Dadurch wird jedoch der Effekt eines Unrechtsbewusstseins oder Fremdschämens bei den Zuschauenden erzielt, als Professor Rath im Blauen Engel bloß gestellt wird. Dieser Eindruck lässt die Situation realistischer wirken.
Der Film setzt sich mit dem Aufeinanderprallen von fremden Welten auseinander. Es werden Wissenschaft und Kunst satirisch gegenübergestellt. Der Professor genießt ein hohes Ansehen, die Polizei schenkt ihm ihr Vertrauen und im Blauen Engel wird er als Ehrengast präsentiert. In der Beziehungskonstellation des Filmes ist dennoch ganz klar die weibliche Hauptfigur in der Machtposition. Professor Rath benimmt sich Lola Lola gegenüber wie ein hilfloses Kind und sie hat ein leichtes Spiel mit ihm. Dabei kommt es zu einem eindeutigen Sieg des Triebes über den Intellekt.
Der Blaue Engel ist bezeichnend für die Darstellung der Frau im frühen Hollywood Film. Marlene Dietrich wird in ihrer Rolle als klassische Femme Fatale inszeniert. Der Kameraschwenk über ihre Beine ist legendär. Neben dem Fokus auf ihre Äußerlichkeiten ist sie dem Professor dennoch an sozialer Kompetenz und Selbst-bewusstsein hoch überlegen. Sie ist eine laszive, starke aber auch käufliche Frau.
Der Film ist heute sicherlich auch deshalb so beliebt, weil er den Startschuss für Marlene Dietrichs Weltkarriere bedeutete. Dabei ist auch die Musik ein wichtiger Aspekt des Filmes, der zu großen Teilen in dem Varieté-Lokal spielt. Marlene Dietrichs fast trotzige Darbietungen von „Kinder, heut’ Abend, da such ich mir was aus“, „Nimm dich in Acht vor blonden Frau’n“ und „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ haben große Wiedererkennungswert und gelten in der damaligen Zeit als anrüchig und provokant. Sie dienen aber auch dazu, dass die weibliche Hauptfigur Lola Lola sich sowohl den Zuschauern als auch dem Protagonisten des Filmes gegenüber selbst näher charakterisiert. In ihrem Leben dreht sich alles um ihre Reize, die Lust am Verlieben und ihr Spiel mit den Männern. „Und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nichts“ hätte Professor Rath bereits bei seinen ersten Besuchen im Blauen Engel als Warnung dienen können. Es ist die klassische Form des foreshadowing: eine Beziehung zu dieser Lebedame kann für Rath nicht gut enden.
Der Gesang ist auch einer der Faktoren, die Marlene Dietrich zum Star machten. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ wird zu einem Welthit, auch in der englischen Version „Falling In Love Again“. Der Blaue Engel verleiht Dietrich das Image einer Femme Fatale, einer begehrenswerten, starken Frau, und den Ruf einer talentierten Sängerin, weshalb sie später immer wieder in Filmen singen wird und beispielsweise mit „Lili Marleen“ weitere Welthits hat. Davon ahnt Kracauer selbstverständlich nichts. Er merkt zu Marlene Dietrichs Stimme in ihrem ersten Tonfilm lediglich an, dass „eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen dem Sprechorgan […] und ihren schönen Beinen besteht“. Eine Aussage die wahrscheinlich gut gemeint ist, heute jedoch sehr abwertend erscheint.
Der Blaue Engel ist ein Film dem in der Filmgeschichte eine große Bedeutung zugemessen werden kann. Kracauers Vorwürfe der Substanzlosigkeit und Wirklich-keitsflucht sind nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Den Film jedoch als beispielhaft für die Verfehlungen der Kultur seiner Zeit zu sehen ist überzogen. Die gesellschaftliche und moralische Spaltung in dem Drama ist eine Thematik mit zeitloser Relevanz. Das lässt sich schon an der Popularität der Handlung, die 1905 sowie auch 1930 und bis heute noch vorzufinden ist, festmachen. Dabei ist besonders beachtlich, dass der Film auch heute nicht eingestaubt wirkt, sondern sowohl technisch als auch inhaltlich noch immer sehenswert ist. Die kuriosen Figuren, die geschichtliche Einordnung und nicht zuletzt der Durchbruch Marlene Dietrichs als Femme Fatale machen den Film zu einem Klassiker.
Der Blaue Engel, Josef von Sternberg, D 1930
Filmkritik erstmals erschienen in Die Neue Rundschau, Juni 1930