Die verwinkelten Gassen des Geistes –
Das Irren des jungen Francis

— Eine Kritik von Victoria Mandl —

Eine ganz persönliche und aktuelle Perspektive auf den historischen Klassiker Das Cabinett des Dr.Caligari (1920) von Robert Wiene, orientiert an den mittlerweile selbst historischen, kritischen Worten Lotte Eisners, die in ihrer 1955 erschienen Monografie Die Dämonische Leinwand Wienes Werk ausführlich kommentiert.

Ein Film von starker Eigenart, so betitelt Lotte Eisner Robert Wienes Film Das Cabinett des Dr. Caligari (1920). Verurteilt sie damit Wienes Werk als eigenartig im Sinne von seltsam, skurril, absonderlich, kurios oder gar grotesk, oder meint Eisner hier nicht vielleicht etwas ganz anderes? Im ersten Moment scheint „starke Eigenart“ als merkwürdige, mehrdeutige Formulierung um einen Film zu beschreiben, doch trifft diese Beschreibung meiner Meinung nach genau die Faszination, welche Das Cabinett des Dr. Caligari auch heute noch, fast 100 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, hervorruft. Eben diese Faszination möchte ich auf den folgenden Seiten mit Lotte Eisners und meinen Worten aufs Papier bringen.

Wienes Das Cabinett des Dr. Caligari ist die filmische Umsetzung eines Drehbuchs von Carl Mayer und Hans Janowitz, deren von Eisner angesprochene Kritik an der Autorität sich nicht nur in der „zwiespältigen Person des Dr. Caligari, der Jahrmarktreißer und Direktor eines Irrenhauses ist“, sondern auch in der Darstellung der Stadtsekretärs und der Polizisten zeigen; Diese sitzen auf lächerlich hohen Stühlen und wirken dabei fast wie Karikaturen ohne nennenswerten Einfluss. Doch wohl am interessantesten ist es, dass die eigentliche narrative Komplexität gar nicht der Feder der beiden Drehbuchautoren entstammt. Die Rahmenerzählung, welche den Film erzählerisch auf eine ganz andere Ebene bringt, wurde nachträglich entgegen des Willens der beiden Drehbuchschreiber ergänzt.

Lotte Eisner steht dieser Ergänzung kritisch gegenüber und schreibt im Sinne der Autoren, dass durch diese Rahmenerzählung die eigentliche Erzählung „herabgemindert“ werde. Auch wenn es stimmt, dass die ursprüngliche Absicht Mayers und Janowitz‘, den jeder Autorität potentiell innwohnenden Wahnsinn aufzuzeigen, konterkariert wird, bin ich der Meinung, dass der erzählerische Rahmen den Film durchaus bereichert. Diese Rahmenerzählung identifiziert zunächst Francis als Erzähler der folgenden Geschichte, nur um ihn in den letzten Sequenzen des Films, noch nach dem eigentlich geschlossenen Ende der von ihm erzählten Geschichte, selbst als Bewohner eines Irrenhauses zu zeigen. Dieser Plot-Twist stellt in den letzten Minuten die gesamte bisherige Deutung der Geschehnisse durch den Zuschauer in Frage, und das nur in dem er die Zuverlässigkeit des Erzählers selbst in Frage stellt.

Die Suche des Francis nach der Wahrheit wird auf den Zuschauer gespiegelt, der am Ende des Films für sich eine Wahrheit darüber finden muss, was überhaupt passiert ist, ob es überhaupt passiert ist und wenn ja inwiefern sich die Erzählung des Francis überhaupt mit dem Geschehenen decken kann. Eine dramaturgische Methode die seitdem immer wieder aufs Neue Verwendung findet. Heute kennen wir solcherlei Plot-Twists meist aus den populären Mindgame Movies, die um die 2000er herum entstanden und sich ebenfalls eines unzuverlässigen Erzählers bedienen, um die komplette Handlung des Filmes am Ende desselben in Zweifel ziehen. Die aktuell wohl bekanntesten Filmbeispiele dafür sind Finchers Fight Club, Singers The Usual Suspects oder auch Scorseses Shutter Island. Diese Wendung entwickelt die einfache Grusel-Kriminalgeschichte weiter zu einem Film, der den Zuschauer auffordert aktiv zu werden und auch nach dem eigentlichen Film die Geschehnisse erneut Revue passieren zu lassen, um zu einem ganz eigenen Verständnis zu gelangen – War alles wirklich nur die „Halluzination eines Irren“ wie Eisner schreibt?

Mit dem unzuverlässigen Erzähler geht immer auch eine sehr subjektive filmische Perspektive einher und damit eignet sich diese Erzählmethode fast perfekt für den expressionistischen Film wie Lotte Eisner ihn in der Dämonischen Leinwand beschreibt. Die Kunstströmung des Expressionismus zeichnet sich insbesondere durch die künstlerische Darstellung des subjektiven Empfindens des Künstlers aus. Im Falle von Das Cabinett des Dr. Caligari erzeugt Francis als unzuverlässiger Erzähler in Kombination mit der Kamera und insbesondere der Mise-en-scène eben diese „gefühlte“ Darstellung. Die herausstechende Mise-en-scène ist es auch, die Wienes Film später den Titel des Prototyps des deutschen Expressionismus verschafft. Während Eisner sich eher abfällig über Wiene äußert, er habe sich nach seinem Erfolg mit dem Caligari-Film als völlig zweitklassiger Regisseur erwiesen, lobt sie die Arbeit der Filmarchitekten Hermann Warm, Walter Röhrig und Walter Reimann in den höchsten Tönen – zu recht. Eisner argumentiert, dass die Filmarchitekten zur damaligen Zeit deutlich größeren Einfluss auf den Film hatten und in einem sehr engen Verhältnis mit den Kameramann, dem sonstigen technischen Stab und dem Regisseur zusammenarbeiteten. Die Filmarchitekten entwarfen dabei im Vorfeld Skizzen, eine Art Storyboard, auf welchen nicht nur die Mise-en-scène, sondern auch schon die Positionierung der Schauspieler sowie die Einstellungsgröße und Perspektive festgehalten waren.

Betrachtet man heute diese „Vorskizzen“ Hermann Warms, so wird einem klar, wie es sein kann, dass viele der Einstellungen aus dem Film für sich schon die Wirkung eines alleinstehenden Gemäldes haben, so sinngewaltig sind diese gestaltet. „Das Filmbild muss Graphik werden“ so zitiert Eisner später Warm, der damit genau dieses zuvor beschriebene Gefühl, dass jedes der Filmbilder für sich stehend schon eine besondere Aussagekraft innehat, trifft. Aber auch die Skizzenartigkeit und das Maß an Abstraktion, welche die Mise-en-scène auszeichnen, beinhaltet dieses Zitat. Schwere, unnatürliche Schatten und die extreme Verzerrung, bis hin zu dem Punkt an dem keine Linie im Hintergrund mehr parallel oder im rechten Winkel zu dem Boden auf dem die Darsteller sich bewegen steht und der Hintergrund sich in wirren Formen verliert – Das sind Eindrücke, die sich nicht nur mit den damaligen Rezeptionskonventionen schneiden, sondern auch heute noch ungewohnt, unangenehm unruhig erscheinen, sich auf diese Weise ganz tief einbrennen und auch nach so langer Zeit noch ihre volle Wirkungskraft entfalten. Die Mise-en-scène greift in ihren bedrohlich schief geometrischen Formen, die im aufgeregten Zusammenspiel miteinander stehen (man denke an den Jahrmarkt bei dem sich im Hintergrund die abgeschrägten Karusselldächer unangenehm wild drehen oder auch verwinkelten Straßen und schief aneinanderlehnenden Häuser der Stadt), die Unruhe des Francis auf, welcher stets getrieben wirkt.

Aber nicht nur die Unruhe Francis spiegelt sich in der Mise-en-scène wider: Die einzigen Sequenzen ohne starke Schlagschatten, allgegenwärtige Krümmungen und Schiefe sind die Aufnahmen in Janes Haus. Hier dominieren gleichmäßige Bogenmuster den Hintergrund und die Sitzmöbel wirken im Gegensatz zu allen anderen Wohnstuben und gezeigten Räumen weich und einladend. Wie auch ihr Schlafzimmer ist der Salon geprägt von sehr hellen Stoffen und im Vergleich eher beruhigenden Formen. Eine Abbildung der zärtlichen Gefühle, welche Francis Jane gegenüber hegt und unterbewusst ihre angenehme Art und Schönheit auszudrücken scheint.

Ebenso subjektiv gefärbt gestaltet sich die Mise-en-scène um Cesare, den Somnambulen, während seiner nächtlichen Mordzüge. Im Gegensatz zu Jane wird hier durch die Mise-en-scène vielmehr die bedrohliche Erscheinung, als welche Francis den Somnambulen wahrnimmt, verstärkt. Die stark hervorstehenden Formen der Mise-en-scène sind nachts umso prägnanter durch Kontraste hervorgehoben, während gleichzeitig die abstrakten Linien im Hintergrund ineinander verschwimmen zu scheinen. Cesare selbst wird über die Mise-en-scène immer wieder mit den Schatten in Verbindung gebracht. Beim Mord an Allan ist er lediglich als bedrohlicher Schatten an der Wand zu sehen, doch später auf dem Weg Jane zu töten wird diese Metapher auf die Spitze getrieben. Ganz in schwarz gekleidet drückt sich Cesare auf seinem Weg in die Häuserschatten und ist kaum in diesen auszumachen. Auch in dem von Janes weißen Bett dominierten Schlafzimmer mit der weißen Rückwand erscheint er als gruseliger Schatten, der sich aus der Dunkelheit gelöst, bedrohlich über ihrem Bett lauert. Auf der späteren Flucht hebt er sich wieder lediglich als schwarzer Kontrast, ähnlich wie die Gebäude, vom grauen Hintergrund ab. Je weiter seine Flucht sich zieht, desto abstrakter wird die Kulisse, bis sie völlig unwirklich und phantastisch erscheint. Am Ende seiner Flucht steht er schließlich auf einem Hügel: kahle Bäume heben sich skelettartig, schwarz gegen den Hintergrund ab. Sie sind kaum von dem fallenden Cesare, der die Arme verwinkelt und vielleicht auch ein wenig verzweifelt nach oben reißt, zu unterscheiden – Auch hier scheint Cesare wie auch in seiner Ausstellung durch den Dr. Caligari auf dem Jahrmarkt lediglich als bedrohliche Requisite, die kurzzeitig zum Leben erweckt wurde.

Lotte Eisner argumentiert, dass nicht nur der seit 23-Jahren tiefschlafende Somnambule im Film zum Leben erwacht, sondern auch die Objekte selbst, wie etwa Häuser, Türen oder die Straßen, zum Leben erwachen und personifiziert werden. Als historischen Vergleich nennt Sie hier die Werke E. T. A. Hoffmanns. Ein Vergleich der mich besonders zum Nachdenken angeregt hat, nachdem ich immerhin ein dreiviertel Jahr meines Bachelorstudiums verbracht habe, um eben jene Werke zu analysieren und lieben zu lernen. In meinem Kopf ließen sich noch weitere Brücken als lediglich die zum Leben erwachten Dinge, wie Türknäufe, der Wind oder auch Olympia, schlagen. Wie bei den Protagonisten in Hoffmanns phantastischen Werken Der goldene Topf oder Der Sandmann bricht auch in Francis Alltag in Form des Dr. Caligari nach und nach der Wahnsinn ein und wie auch bei Hoffmann wird im Verlauf der Erzählung die Obsession und der Wahn, in welchem die jungen Männer gefangen sind, für den Leser immer deutlicher und gleichzeitig befremdlicher wird, während sie sich selbst immer weiter in ihren Vorstellungen verlieren.

Interessant ist auch das Doppelgänger-Motiv, welches Hoffmann in den Elixieren des Teufels aufnimmt. So zeigt Cesare, „der Schatten“, eine gewisse Verbindung zu Francis und könnte im weiteren Sinne als Doppelgänger bzw. Alter Ego desselben identifiziert werden. Cesare, der als Somnambule ohne eigenen Willen von äußeren Mächten geleitet wird, erscheint gleichzeitig im Sinne von Francis zu handeln: Er tötet nicht nur Francis einzigen Rivalen um die Gunst der schönen Jane, sondern entführt Jane selbst auf gewaltsame Weise und versucht sie so dem Rest der Welt zu entziehen. In Cesare erwachen die dunklen Wünsche und Begehren des jungen Francis zum Leben. An dieser Stelle könnte man mit Sicherheit noch viele weitere Seiten füllen, über die zahlreichen Einflüsse der Romantik und auch über den Einfluss von Freuds Psychoanalyse, aber ich ende hier lieber wie folgt: Das Cabinett des Dr. Caligari schafft in seiner Mise-en-scène und seinen Figuren denselben phantastisch-dunklen, psychologischen Horror wie die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, der uns als Zuschauer am Ende nicht nur dem Wahnsinn in die Augen blicken lässt, sondern uns noch näher am Abgrund positioniert und die Erzählung ganz nah aus den Augen des Wahnsinnigen erleben lässt.

An vielen Stellen angerissen, aber noch nicht thematisiert, wurde das von Eisner besonders hervorgehobene Schauspiel der Darsteller, ohne welches laut Eisner der Erfolg des Filmes, trotz atemberaubender Mise-en-scène fraglich gewesen wäre. Gerade das noch stark an das Theater angelehnte Schauspiel, dass im Weimarer Kino zu sehen war, wirkt aus heutiger Sicht oftmals überzogen und oft eher komisch, fast deplatziert. Doch gerade bei Das Cabinett des Dr. Caligari entfaltet dieser stark stilisierte, durch schwarzes Augenmakeup weiter hervorgehobene Schauspielstil Durchschlagkraft. Ausschlaggebend ist außerdem die Besetzung des Dr. Caligari mit dem damals schon bekannten Werner Krauß. Dieser war im Vorfeld in den verschiedensten Filmen immer wieder in der Rolle des Fieslings (Opium 1919), des Mörders (Totentanz 1919) oder des Sadisten (Ibsens Geschichte 1918) zu sehen und so rief schon sein Gesicht als Gesicht des Dr. Caligari eine Menge Assoziationen beim deutschen Publikum hervor.

Eisner erklärt hier: Werner Krauß‘ und Conrad Veidts (Cesare) Schauspiel sei dadurch charakterisiert, dass die beiden „in ihrer Körperhaltung und ihrem Gesichtsausdruck alle Übergänge und vermittelten Nuancen“ vermieden und so ein sehr abgehacktes, aber gegen den wirren Hintergrund wirkungsstarkes Spiel entwickelten. Durch diese Art des Spielens erweckt Werner Krauß den Caligari als eine Figur, die nicht nur exzentrisch bis wahnsinnig, sondern gleichzeitig auch in höchstem Maße anti-moralisch und bedrohlich wirkt. Getragen wird dieses Erscheinungsbild des Dr. Caligari durch die zahlreichen Nahaufnahmen des grimmig, tückisch verzogenen Gesichts Werner Krauß, das in manchen Fällen von Aufnahme zu Aufnahme die Emotionen ins immer nächste Extrem zu wechseln scheint. Dieser sprunghafte Ausdruck verschiedener Emotionen lässt den Dr. Caligari umso unberechenbarer wirken und wird in besonders dramatischen Szenen, wie in der „Du musst Caligari werden“-Szene, durch schnelle Jumpcuts noch weiter intensiviert. Für das Spiel von Conrad Veidt war dagegen die Gestik von deutlich größerer Bedeutung. Wie bei Krauß wirken auch bei Veidts Cesare die Körperhaltung und auch die Bewegungen oft überzogen. Während der Caligari immer etwas gekrümmt wirkt, steht und sitzt Cesare in den meisten Fällen steif gerade; Während der Caligari bestimmt und berechnend in seiner Gestik wirkt, erweckt Cesare in seinen Bewegungen immer den Eindruck von Unsicherheit und fehlender Geschicklichkeit. So heben sich Cesare und Caligari durch ihrer gegensätzlich wirkende, aber ähnlich erzeugte Gestik immer wieder gegenseitig hervor.

Ein weiteres schauspielerisches Mittel, um Unruhe und Unbehagen bei den Zuschauern hervorzurufen, sind ganz klar die durch schwarze Schminke vom restlichen weißgeschminkten Gesicht abgesetzten Augen. Gerade die Augen von Francis, Jane, Allan und sogar Cesare werden immer wieder genutzt um deren Schrecken und Empfundenen Horror für die Zuschauer greifbar zu machen: Schreckensweit aufgerissen, aus den schwarzen Höhlen unnatürlich hervortretend, starren sie immer wieder dem Publikum entgegen.

Lotte Eisner zieht am Ende ihres Kapitels zu Wienes Das Cabinett des Dr. Caligari den Schluss, dass dieser Film nicht wie oft suggeriert eine Art Filmschule erst hervorgerufen hat, vielmehr schafft der Film es in einer besonderen Einheit zwischen Dekor, Spiel und Kostümwirkung in  besonderer Weise seine expressionistische Wirkkraft zu entfalten. Diese besondere Einheit, die Eisner anspricht, zeigt sich meiner Meinung nach gerade darin, dass ich auch heute noch wirklich Spaß daran habe mich einfach zurückzulehnen und diesen Film (auch beim vierten Schauen noch) zu genießen und in seiner „besonderen Eigenart“ auf mich wirken zu lassen.

Wem das alles noch nicht reicht, um sich doch auch mal die Zeit zu nehmen diesen phantastischen Klassiker anzusehen, der mit seiner durchdringenden Mise-en-scène, dem wundervollen Plot-Twist und dem noch immer bedrückenden psychologischen Horror, im Gegensatz zu vielen anderen Stummfilmen auch heute noch besticht und sicherlich einen Filmabend wert ist, dem ist an diesem Punkt auch nicht mehr zu helfen.