Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen. Er wird zum Beispiel zu zeigen haben, was für ein Gesellschaftsbild die zahllosen Filme mitsetzen, in denen eine kleine Angestellte sich zu ungeahnten Höhen emporschwingt, oder irgendein großer Herr nicht nur reich ist, sondern auch voller Gemüt. Er wird ferner die Scheinwelt solcher und anderer Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren und aufzudecken haben, inwiefern jene diese verfälscht. Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut zu brechen.
Siegfried Kracauer, Über die Aufgabe des Filmkritikers, 1932